Merseburger Zaubersprüche

Die Merseburger Zaubersprüche sind nach dem Ort ihrer Auffindung in der Bibliothek des Domkapitels zu Merseburg benannt. Dort wurden sie 1841 von dem Historiker Georg Waitz in einer theologischen Handschrift des 9./10. Jahrhunderts entdeckt und 1842 von Jakob Grimm erstmals herausgegeben und kommentiert. Die zwei Zauberformel sind in athochdeutscher Sprache niedergeschrieben. Sie nehmen Bezug auf Themen und Figuren der vorchristlichen germanischen Mythologie.

Der Erste Merseburger Zauberspruch gilt gemeinhin als ein Lösezauber von Fesseln eines Gefangenen (Kriegers), der Zweite Merseburger Zauberspruch als Heilungszauber eines verletzten bzw. verrenkten Pferdefußes.

Die Merseburger Zaubersprüche (MZ1+2) finden sich in einem Sakramentar des 9. Jahrhunderts, einer sechslagigen Sammelhandschrift mit doppelter Foliierung als nachträglicher Eintrag auf einem ursprünglich frei gebliebenen Vorsatzblatt. In der Regel wird die ältere Foliierung fol 85 r in der wissenschaftlichen Literatur angeführt; sie findet sich in Tinte in der oberen rechten Ecke des Blattes. Jedoch ist diese Zählung in der Handschrift nicht stimmig, da Auslassungen und Doppelungen bestehen. Schon Grimm hatte daher bei seiner Erstedition die am unteren rechten Rand stehende konsistente, in Bleistift geschriebene jüngere Foliierung (fol. 84 r) angeführt. Neben den beiden Sprüchen sind in der Handschrift noch zwei weitere deutsche Texte enthalten, nämlich das sogenannte „Fränkische Taufgelöbnis“ (fol. 16 r) und das „Merseburger Gebetsbruchstück“ (fol. 53 r). Unterhalb der MZ befindet sich ein lateinisches Gebet.

Den paläographischen Forschungen Bernhard Bischofs zufolge wurden die MZ im ersten oder zweiten Drittel des 10. Jahrhunderts in die Handschrift eingetragen. Als Ort der Niederschrift wird gemeinhin das Kloster Fulda angenommen, wo sich der Codex nachweislich bis 990 befand. Bischoff konnte bei seiner paläographischen Expertise nachweisen, dass etwa die Niederschrift des „Fränkischen Taufgelöbnis“ in Fulda erfolgte, da ihr Schriftbild dem Fuldaer Typus der karolingischen Minuskelschrift entspricht. Schwierigkeiten für die Einordnung der MZ ergeben sich daraus, dass das Schriftbild der MZ vom Fuldaer Typus abweicht und das auf die MZ folgende lateinische Gebet von einer anderen Schreibhand stammt. Die Qualität der Aufzeichnung steht jedoch über der anderer volkssprachiger marginaler Einträge im sonstigen lateinischen Umfeld. Daher geht man bezüglich der MZ davon aus, dass sie in Fulda aus einer Vorlage abgeschrieben worden sind.

Die Frage des Dialektes ist nicht entschieden geklärt. Frühere Annahmen, wie "thüringisch" (Grimm), ließen sich nicht erhärten, da im althochdeutschen Textkorpus keine direkten Zeugnisse vorliegen. Die weitere Diskussion fand mit der Befürwortung für das Rheinfränkische oder für den ostfränkischen Dialekt statt. Für das Ostfränkische wird mit dem Bezug auf den Schreibort Fulda mehrheitlich tendiert. Diese Umstände bedingen ebenfalls textkritsche Fragen zur Lexik, beziehungsweise zu den gegebenen Abweichungen unter Vergleich zum übrigen althochdeutschen Wortschatz (Hapax Legomena, vermuteten Schreib- oder Abschreibfehler). Beispielhaft sind aus dem MZ1 eiris als Verschreibung zu enis, einis, eres, erist für einstmals , und im MZ2 die auffälligen Graphien „ct“ bei birenki[ct], und „ht“ bei sin[ht]gunt. Diese auffälligen Schreibungen werden in der Regel still verbessert oder gegebenenfalls angezeigt.

Die Sprüche sind zweigliedrig. Sie bestehen aus einem episch-erzählenden Einleitungsteil (historiola), der ein früheres Ereignis schildert, und der eigentlichen Zauber- beziehungsweise Beschwörungsformel, als (incantatio) bezeichnet.

Die Form der Verse ist die stichische Langzeile und zeigt teils Stabreime auf, mit der Tendenz zu Kurzverspaaren. Die Stabung ist nicht konsequent durchgeführt und weist die Neigung zum Endreim auf (MZ1 V.2, 4). Deshalb wird mit Einschränkungen angenommen, dass die MZ Zeugnisse des Übergangs von der Technik der Stabreimdichtung zur endreimenden Dichtung sind.

Die Datierung der Entstehungszeit der MZ ist in der Forschung ein wesentlicher Diskussionspunkt. Wolfgang Beck nennt als Faktoren dazu: Bezüge zur vorchristlichen paganen garmanischen Religion, der Formenbestand, der Aufzeichnungsort, die Aufzeichnungszeit, der Entstehungsort, sowie die Anbindung an die mündliche Dichtung („Oral Poetry“). Die Schlüsse der Forschung aus diesen Faktoren sind uneinheitlich und weichen bei der zeitlichen Festsetzung erheblich voneinander ab. Auffällig ist, dass sich die Diskussion hierbei hauptsächlich auf den MZ2 konzentriert.

 

Adalbert Kuhn nahm im 19. Jahrhundert eine direkte Anknüpfung an eine Indoeuropäische kontinuierliche Tradition an mit einer Entstehungszeit vor der historischen Nachweisbarkeit germanischer Dichtung.

Gerhard Eis nahm eine Datierung (MZ1) ins 3. – 4. Jahrhundert an.

Felix Genzmer datierte den MZ1 ins 2. Jahrhundert, den MZ2 ins 5. Jahrhundert.

Georg Baesecke datierte ins frühe 9. Jahrhundert.

Heutige Annahmen gehen von einer Entstehungszeit der MZ nahe der Eintragungszeit aus, frühestens aus der Zeit der Mission Bonifatius vor 750.

Wesentlich sind die Fragen, warum diese Sprüche in dieser Handschrift erscheinen, warum eine spätere Hand einen Auszug aus einem lateinischen, kirchlichen Gebet hinzugefügt hat und warum außer diesen keine weiteren vorchristlich-paganen Texte überliefert sind. Die Interpretation der Texte wird durch die Abwesenheit von Vergleichsmaterial erheblich erschwert. Für den MZ1 werden abweichende Anwendungsbereiche angenommen. Als Lösezauber (Fesseln) für Gefangene, oder als Zauber in der Heilkunde, beziehungsweise in der Geburtshilfe. Für den MZ2 wird einheitlich die Verwendung gegen die Verletzung, Verrenkung eines Pferdehufs, beziehungsweise des Beines angenommen.

  • Merseburger Zauberspruch

 

Einst saßen Idise, setzten sich hierher und dorthin.
einige hefteten Fesseln, einige reizten die Heere auf.
Einige klaubten herum an den Volkesfesseln
Entspringe den Haftbanden, entkomme den Feinden.

(Modifiziertes Stabreimschema ( ) nach E. Sievers Fünftypen Schema)

Der MZ1 beschreibt, wie eine Anzahl Idisen auf dem Schlachtfeld gefangene Krieger von ihren Fesseln befreit.

Unklar ist die Identifikation der Idisi des 1. Spruchs. Möglicherweise sind dies walkürenartige Frauen. Eventuell sind die „idisi“ identisch mit den Disen, weiblichen Gottheiten aus der nordischen Mythologie. Daneben ist eine profane Deutung der „idisi“ (ahd. itis) als Edelfrauen nicht ausgeschlossen, da im althoch- und altsächsischen Literaturkontext betrachtet diese Bedeutung wohl wahrscheinlicher ist; so benutzt der Helianddichter sowie Otfried dieses Wort im christlichen Umfeld.

Weitere Interpretationen sind zauberkräftige Frauen oder gar das Gegenstück zu den Walküren..

Ebenfalls als problematisch erweist sich das letzte Wort der ersten Langzeile, duoder, das man am häufigsten mit dort oder dorthin übersetzt findet. Jedoch weist Gerhard Eis in seiner Essaysammlung "Altdeutsche Zaubersprüche" darauf hin, dass „diese Bedeutung von duoder nirgends bezeugt oder auch nur als wahrscheinlich erwiesen wird“. Weiter argumentiert er, dass bei mittelalterlichen Kopisten häufig die - fehlerhafte - Vorwegnahme des Anlauts der zweiten Silbe in der ersten zu beobachten ist, und unter diesem Gesichtspunkt deutet er duoder in muoder, althochdeutsch für Mütter um.

Davon ausgehend, versteht er das vorausgegangene Wort hera auch nicht als hier(her), sondern als hehr bzw. ehrwürdig. Von hehren Müttern wäre somit die Rede. Diese wiederum bringt er in Zusammenhang mit den im ersten Halbvers benannten Idisen, indem er auf den zur mutmaßlichen Entstehungszeit der Zauberformel (erste Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrtausends) unter den germanischen Stämmen weit verbreiteten Matronenkult verweist. Als hilfreiches Indiz hierfür benennt er unter anderem die für die stets gruppenweise auftretenden Matronen charakteristische Dreizahl, und tatsächlich sind die Idisen des Zauberspruchs in drei Gruppen aufgeteilt.

Phol und Wodan begaben sich in den Wald
Da wurde dem Fohlen des Herrn/Balders sein Fuß verrenkt
Da besprach ihn Sinthgunt, die Schwester der Sunna
Da besprach ihn Frija, die Schwester der Volla.
Da besprach ihn Wodan, wie er es wohl konnte.
So Beinrenkung, so Blutrenkung,
so Gliedrenkung:
Bein zu Bein, Blut zu Blut,
Glied zu Glied, wie wenn sie geleimt wären

Der zweite Merseburger Zauberspruch behandelt die Heilung eines Pferdes durch Besprechung (zur besonderen Bedeutung der Pferdeheilkunde siehe auch Eis). „Phol“ und Woden reiten durch den Wald (holza), „Balders“ Pferd hat einen verletzten Huf, beziehungsweise Unterlauf. Darauf folgend der Spruch Wodans: „Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Glied, als ob sie geleimt seien“. Die anderen (Götter-)Namen konnten bislang nicht eindeutig identifiziert werden. Anerkannt ist die Identifikation von „Uuôdan“ (Wodan, Wotan, Odin) und „Frîia“ (Frija, die Frau von Odin). Bei den anderen Namen ist nicht einmal sicher, ob es sich wirklich um Namen von Göttern handelt, da für ihre Übersetzung verschiedene Interpretationen bestehen.

Strittig ist gleichfalls, wie der Name „Phol“ im 2. Spruch zu lesen ist. In der Handschrift erscheint ein Großbuchstabe P, gefolgt von „ol.“ Ein „h“ ist dem „o“ über der Zeile überschrieben. Die Forschung hat darin oft den Namen eines unbekannten Gottes „Phol“ gesehen. Gleichfalls scheint aber auch eine Schreibung für neuhochdeutsch Folen möglich.

Diskutiert wird, wie „Sinthgunt“ zu übersetzen sei, wobei die Handschrift „Sinhtgunt“ liest.

Balder: Ist in der nordischen Mythologie der Gott des Lichtes. In den westgermanischen Sprachen ist dieses Wort als Name für eine Gottheit aber nicht bekannt.

Auf völkerwanderungszeitlichen Brakteaten von circa 450 n. Chr. bis nach Mitte des 6. Jahrhunderts finden sich teilweise auf den Exemplaren vom Typus B und C Abbildungen mit dem Thema der göttlichen Pferdeheilung. Beispielhaft sind unter anderen die Funde aus Deutschland von Sievern, und von Obermöllern bei Merseburg. Diese ikonographischen Darstellungen zeigen nach den Forschungen Karl Haucks Jahrhunderte vor der literarischen Fassung, Wodan/Odin beim Heilen eines Pferdes, dessen Unterläufe eindeutige Schädigungen abbilden. Hauck wertete insbesondere B- und C-Typen aus, die im Fundortkontext von Odinsheiligtümern gefunden wurden, und stellte nach den von ihm gedeuteten Chiffrenmuster die Bezüge zum MZ2 dar. Die Methodik Haucks und dessen hermenetische Schlüsse in Bezug auf die literarische Darstellung des MZ2 ist in der Forschung allgemein anerkannt, wird jedoch durch einzelne wie Wolfgang Beckoder Helmuth Birkhahn und Robert Nedoma kritisch hinterfragt, beziehungsweise von Beck abgelehnt.

Indogermanische Vergleiche

Neben weiteren europäischen Überlieferungsvarianten jüngeren Datums findet sich zum zweiten Merseburger Zauberspruch eine Parallele in der altindischen Überlieferung Atharvaveda (Text IV 12 in der Śaunakīya-Version, IV 15 in der Paippalāda-Version) wieder. Der auf Sanskrit verfasste Text besteht aus der Anrufung der in der Pflanze Arundhatî ruhenden Heilkräfte:

Eine Wachsenlassende bist Du als Rohini [*Rote]
die (Zusammen-)Wachsenlassende des gespaltenen Knochens,
laß auch dies hier (zusammen-)wachsen, o Arundhatî!

Was Dir versehrter, was Dir versengter
Knochen oder Fleisch ist an Deinem Selbst,
das soll (der Gott) Dhatr (der [Zusammen-]Setzer) heilbringend wieder
zusammensetzen, mit dem Gelenk das Gelenk.

Zusammen werde Dir Mark mit Mark,
und zusammen Dir mit Gelenk das Gelenk,
zusammen wachse Dir das Auseinandergefallene des Fleisches,
zusammen wachse der Knochen zu!

Mark werde mit Mark zusammengefügt,
mit Fell wachse Fell (zusammen),
Blut und Knochen wachse Dir,
Fleisch wachse mit Fleisch (zusammen)!

Haar füge (oder: füge er) zusammen mit Haar,
mit Haut füge (oder: füge er) zusammen Haut,
Blut (und) Knochen wachse Dir,
das Zerspaltene mache zusammen, o Pflanze!

So steh auf, geh los, lauf fort (wie) ein Streitwagen mit guten Rädern, mit guten Radschienen, mit guten Naben, nimm aufrecht festen Stand ein!

Ob er es sich durch den Sturz in eine Grube gebrochen hat,
oder ob ein geschleuderter Stein es ihm zerschmettert hat,
wie Rbhu die Teile des Streitwagens,
so soll er (Dhatr?) zusammensetzen mit dem Glied das Glied

Übereinstimmungen zwischen diesem Text und MZ2 bestehen sowohl in der Rahmenhandlung (ein Gott greift ein) als auch in der Formel nach dem Schema X zu Y, wobei überdies in beiden Texten Blut, Knochen und Glieder in dieser Formel gebraucht werden. Analoges gilt auch für die altsächsische Fassung des Wurmsegens, der als ältester deutscher Zauberspruch gilt, nachfolgend mit Übersetzung:

Geh hinaus, Nesso, mit neun Nesslein,
hinaus von dem Marke an den Knochen,
von dem Knochen an das Fleisch,
hinaus von dem Fleisch an die Haut,
hinaus von der Haut, in diesen Pfeil! (= vgl. der Hufstrahl des Pferdes, Hufsohle mit pfeilförmigem Relief)
Herr es werde so!

Ein entstehungsgeschichtlicher Zusammenhang zwischen dem zweiten Merseburger Zauberspruch und dem Sanskrit-Text ist bisher nicht geklärt, da viele altindische Überlieferungen erst nach und nach herausgegeben und damit der wissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich gemacht werden. Klaus Mylius sieht in den Gemeinsamkeiten lediglich zufällige Parallelentwicklungen. Heiner Eichner hält allenfalls die Verse MZ2, 8f. der Incantatio für „potentiell altüberkommene“ indogermanische Übereinstimmung. Er verweist auf einen möglichen genetischen Zusammenhang, der erst durch weiterführende Forschungen zu festigen oder zu widerlegen sei

Reinhard v.Tümpling, im Januar 2014