Materialsammlung und Unterrichtssequenz zum Lernbereich  12.2 Kommunikation

1. Wie wird ein gewöhnliches Ding zur Kunst?
"Fountain" von Marcel Duchamp als Schachzug, als historisch etwas verfrühte Strategie in einem sich neu etablierenden Kommunikationsgeflecht Kunst

von Uli Schuster 2010

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Der neue Lehrplan für die Oberstufe des G8 in Bayern sieht in 12.2 eine Auseinandersetzung mit dem Themenfeld "Kommunikation" vor. Die Schüler sollen alltagsästhetische Phänomene und Kunstwerke als Teile komplexer Kommunikationsprozesse in der Gesellschaft begreifen. Dazu lernen sie unterschiedliche Kommunikationsstrategien vor allem von Künstlern  des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Dabei kommen Kunstgeschichtliche Positionen der klassischen Moderne und des 20./21. Jahrhunderts zur Sprache, die einen Eindruck vermitteln von Affirmation bis Kritik, die geprägt sind von Provokation, Überwältigung oder/und poetischer Verklärung, denen es um Erweiterung bis Entgrenzung des Kunstbegriffs geht und um Autonomie der Gestaltung bis hin zur Ausschaltung von Kritik.

Die nachstehende Unterrichtssequenz möchte in drei abgeschlossenen Einheiten Beispiele geben, die in diesen Rahmen passen. Neben den uns zur Verfügung stehenden Schulbüchern befragen wir auch spezifischere Quellen zum jeweiligen Autor oder Problemfeld. Die Unterrichtssequenz ist auf drei getrennte Adressen verteilt.

1. Wie wird ein gewöhnliches Ding zur Kunst? Überlegungen zu Ready-mades von Marcel Duchamp führen zur Einsicht in strategische Positionen von Künstlern. Dabei wird sichtbar, wie die Kunstausstellung, die Kunstkritik, das Museum zu Instrumenten der Kunstproduktion werden können und eine Definitionshoheit erlangen über das, was als Kunst kommuniziert wird.

2. Welche Rollen besetzen Künstler und Publikum im Kunstsystem des 19. und 20. Jahrhunderts? Mit der französischen Revolution gerät in ganz Europa ein traditionelles ökonomisches Bündnis zwischen Kunst und feudalen Auftraggebern (Kirche und Adel) ins Wanken.  Königliche und fürstliche Sammlungen sowie Bestände aus geplünderten Klöstern/Kirchen wandeln sich in öffentliche Museen mit einem neuen, bürgerlichen Publikum.  Die künstlerische Produktion muß in neuem Maßstab über einen freien Kunstmarkt nach neuen Vertriebswegen und bürgerlichen Käuferschichten suchen. Das Verhältnis der Künstler zu ihrem Publikum ist im 19. und 20. Jh geprägt von starken Spannungen, die bis zu offen ausgetragenen Feindseligkeiten reichen. Dabei geht es nicht immer nur um die Kunst selbst, sondern auch um den gesellschaftlichen Rang, den Künstler beanspruchen, um Differenzen im Lebensstil, um ein Bedürfnis nach Erbauung oder Unterhaltung, das vom Publikum eingefordert wird oder auch um Belehrungen, die man sich erhofft oder verbittet. Dabei erscheint weder die Künstlerschaft als ein homogenes Gebilde noch lässt sich das Publikum oder die Kritik über einen Kamm scheren.

3. Wie deuten Künstler die Grabenkämpfe der 'Schulen' im 20. Jh? Die europäische Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts lässt sich nicht mehr als eine geschlossene Epoche beschreiben. Eine nahezu beliebig erweiterbare Reihe von Ismen, Schulen, Gruppierungen und schwer einzuordnenden Individuen lösen sich in immer kürzeren Zeitspannen ab und verlaufen teilweise auch zeitlich parallel zueinander. Sie bekennen sich zu unterschiedlichen Zielen, grenzen sich voneinander ab, konkurrieren um den Einzug in Museen und Sammlungen und sprechen sich nicht selten auch gegenseitig Relevanz, Aktualität, Bedeutung ab. Insgesamt bietet sich fast ein Bild wie bei politischen Parteien: Man vertritt eine gemeinsame Linie nach außen, bedient und pflegt ein begrenztes Publikum mit besonderer Rücksicht auf Sammler und wohlgesinnte Kommentatoren. Solche Bündnisse auf Zeit überdauern selten einen sich anbahnenden kommerziellen Erfolg und werden vom einzelnen Künstler schnell einer eigenen Profilierung geopfert.

Wie wird ein gewöhnliches Ding zur Kunst?
 
Zwischen 1913 und 1917 experimentiert ein Franzose mit "Objekten", die er aus Gebrauchsgegenständen montiert, bzw im Kaufhaus erwirbt, Marcel Duchamp. Beim ersten dieser Experimente montierte er 1913 das Vorderrad eines Fahrrades in einer geraden Gabel umgekehrt auf einen gewöhnlichen Küchenhocker. Das Objekt zeigt ein Interesse an Kinetik. Die Drehbewegung und ihr Schattenspiel bei Projektion scheinen ein Anlass für diese Bastelei gewesen zu sein. "Es war nicht zum Ausstellen gedacht"..."es war einfach nur für meinen eigenen Gebrauch." ( Duchamp zitiert in Tomkins S.160 aus einem Interview mit dem Verfasser) Dem Fahrrad-Rad folgte 1914 ein Flaschentrockner, den er ebenfalls aus 'rein ästhetischen Gründen' in einem Kaufhaus erwarb und in seinem Atelier verstauben ließ. Zwei Jahre später kam ihm in New York die Idee, aus diesen Dingen eine Art neuer Kunst zu machen. Zum ästhetischen Reiz gesellte sich ein intellektuelles Vergnügen. Er prägte dafür den Begriff Ready-made. An dem uns bereits bekannten Beispiel von Duchamps 'Fountain, 1917' wollen wir untersuchen, wer welchen Anteil daran hat, wenn ein gewöhnliches Ding zu Kunst werden kann.  Duchamps Ready-mades prägen ein Kunstverständnis, das erst in den 60er Jahren des 20. Jh in der Pop-Art und später in der Konzeptkunst eine größere Resonanz findet und dann auch in die Kunstgeschichtsschreibung eingeht.
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A) Mit welchem "Ding" haben wir es zu tun?

Auf der Suche nach Abbildungen von Duchamps "Fountain" finde ich eine "historische Fotografie" von Alfred Stieglitz aus dem Jahr 1917. Diese oft zitierte Abbildung existiert bereits 1917 in unterschiedlichem Zuschnitt, einmal wie hier den Sockel betonend durch ein hohes Format, einmal etwas flacher, wie in der Zeitschrift "The Blind Man", stets jedoch in s/w-Reproduktion. Sie wurde bei <Nerdinger> (s.u.) so beschnitten, dass ein bei H.H. Mann zu sehendes Podest oder ein Sockel, wie auch ein links angebundener Packzettel unsichtbar wird, die Beschneidung im <Kammerlohr> (s.u.) fällt etwas geringer aus, dafür bietet dieses neue Schulbuch als Farbe den Braunton einer alten Fotografie, den ich bislang noch nirgends so fand. Die Aufnahmen  scheinen ansonsten identisch; Objekte und Hintergründe gleichen sich in diesen Bildern, der bei Nerdinger besprochene "Sockel", auf den Duchamp das Objekt gestellt haben soll, ist nur bei Mann gut zu sehen und, wie auch das Objekt selbst, etwas aus der Symmetrie gerückt. Über die Höhe dieses Sockels lässt sich nur spekulieren: Der Fotograf suggeriert eine Augenhöhe mit dem Objekt. Demgegenüber handelt es sich bei der Abbildung aus dem <Grundkurs Kunst 2> möglicherweise um ein anderes Objekt, aus einem anderen Blickwinkel, ohne erkennbaren Sockel vor einem anderen Hintergrund in Farbe fotografiert. Der Schriftzug scheint leicht versetzt zu sein und die Anordnung der Ausflusslöcher differiert möglicherweise. Wenn auch durch die Verschattung der Fotografie von Stieglitz hier eine Aussage schwer fällt. Mit einiger Sicherheit unterscheiden sich beide Objekte von dem, das im Haus der Kunst ausgestellt war. Bei diesem Objekt bilden die Ausflussöffnungen am Tiefpunkt des Beckens einen Kreis und es fehlt auch eine Profilierung des Beckenrands. Andererseits imitiert der Schriftzug recht ähnlich die Aufschrift auf dem Objekt, das Stieglitz fotografierte. Bleibt die Frage nach dem "Original" und der Verdacht, dass es sich bei Fountain um eine Art Auflagenobjekt handelt, wie etwa bei vielen von Rodins Plastiken. Die Legenden in <Grundkurs Kunst 2> und bei Nerdinger liefern in verschiedenen Worten eine Erklärung: Bei dem hier gezeigten Objekt handelt es sich um eine "Replik" aus dem Jahr 1964, während das von Stieglitz fotografierte Objekt bei <Nerdinger> als "verschollen" bezeichnet ist.

In seiner formalen Substanz gleicht das Objekt einem Fabrikat aus dem Sanitärhandel (z.B. laut wikipedia: Standardmodell „Bedfordshire“ der Firma J. L. Mott Iron Works aus New York City), das fachlich auch als Urinal bezeichnet wird, aus Porzellan gegossen ist und in Männertoiletten in zahllosen Varianten auch heute noch zu finden ist, für Männer, die lieber im Stehen als im Sitzen ihr Wasser lassen wollen. Vielleicht ist es erwähnenswert, dass derartige Urinale um 1900 in Mode kamen, und möglicherweise rührt Duchamps Interesse für das Objekt daher, dass ihm dieses amerikanische Kulturgut aus seiner französischen Heimat noch nicht geläufig war, wo das Pissoir üblicherweise noch eine Pinkelrinne war. In "The Blind Man II"(s.u.) macht sich Duchamp lustig über die Überlegenheit der Kunst Amerikas: "The only works of art America has given are her plumbing and her bridges."

Rhonda und Roland Shearer gingen der Frage nach, woher Duchamp seinen legendären "Springbrunnen" hatte und vergleicht das von Stieglitz dokumentierte Exemplar mit historischen Abbildungen aus zeitgenössischen Sanitärkatalogen. Dabei entwickeln sie die These, dass das von Stieglitz abgebildete Exemplar weder von der Firma Mott Works hergestellt, noch von ihr vertrieben wurde. http://www.toutfait.com/issues/issue_3/Collections/rrs/shearer.htm
 

Die zahlreichen Repliken, die in mehreren westlichen Museen zu finden sind gehen in der Hauptsache zurück auf Arturo Schwarz, einen Mailänder Galeristen, der sich 1964 eine nicht ganz klare Anzahl von Duchamp signieren ließ, wiederum mit dem Schriftzug, den auch schon das von Stieglitz abgebildete Objekt trug. Am 10./11.2.2007 berichtet die SZ von einem Attentat auf eine Replik von Fountain im Pariser Centre Pompidou. Für seine Beschädigung mit einem Hammer am 4.1.2006 musste Pierre Pinoncelli 14 352 Euro Strafe zahlen. Der Wert der Replik wurde auf 2,8 Millionen Euro geschätzt. Die Replik stammt aus der Serie von Arturo Schwarz (s.u.).
 

Im Bild ist zu sehen, dass "Springbrunnen" keinen Wasseranschluss besitzt, also nicht gebrauchsferig ist und sozusagen 'auf dem Rücken' liegt. Alle Fotografen scheinen sich darüber verständigt zu haben, dass es von dieser "Plastik" eine Hauptansicht gibt, man sieht dieses Ding selten aus einer seitlichen Ansicht.

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"Marcel Duchamp: 
Springbrunnen,1917. Ready-made. 
Urinoir aus Sanitärporzellan,
Höhe 62, 5 cm. 
Replik 1964. Privatsammlung
(Klant/Walch, "Grundkurs Kunst 2", 1990, S.166)
"Marcel Duchamp:
Springbrunnen, 1917. 
Ready-made, Original verschollen
(Wilfried Nerdinger, "Perspektiven der Kunst", 1990, S.279)
(Kammerlohr, Kunst im Überblick, S.329


(Grünewald, "Kunst entdecken Oberstufe", 
Cornelsen 2009, S.50)




 

Ausstellung "Dinge in der Kunst 
des XX. Jahrhunderts" 
im Haus der Kunst, München 
"Fountain, 1917/1964"
(Foto von Uli Schuster, (September 2000)
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Fazit:
'Fountain' von Marcel Duchamp erscheint uns eher als ein gedankliches Konstrukt, eher eine Idee, als ein bestimmtes, unverwechselbares Ding oder eine Gattung von Dingen. Tatsache ist, dass es sich im Verlauf der Jahre seit 1917 vermehrt hat, dass zum Objekt eine Reihe von Klonen oder Geschwistern entstanden ist, wobei einige dieser Nachkommen ästhetisch leicht aus der Reihe tanzen, eher als jüngere Brüder wirken. Sein sinnlich wahrnehmbares, singuläres Erscheinungsbild scheint für Duchamp oder/und die Nachbildner eher unbedeutend gewesen zu sein. Eine Kunst, der es um ein sinnlich-visuelles Erleben geht, bezeichnet Duchamp gern verächtlich als "retinal". Wir werden später noch sehen, dass Repliken für Duchamp durchaus eine gewünschte Form seines Werks darstellen. Wir werden auch feststellen, dass eine ganze Anzahl der Repliken von 'Fountain' trotz aller Verachtung dieser Ideenkunst gegenüber dem retinalen Erscheinungsbild den angestrengten Versuch machen dem ursprünglichen Objekt doch möglichst ähnlich zu sein. Die Schrift sitzt immer links vom 'verwaisten' Wasseranschluss und das Objekt liegt meist auf seiner einzigen planen Fläche sozusagen am Rücken. Der Werkstoff Porzellan (mit Ausnahme einzelner vergoldeter und bronzener Exemplare) scheint eine ästhetische Notwendigkeit, ein Sockel erscheint als erwünschte, aber nicht zwingend notwendige Beigabe, vielleicht auch deshalb, weil nur so eine Ansicht  möglich ist, die der Fotografie des 'Originals' nahe kommt. Der Packzettel ist nur in der Fotografie von Stieglitz erkennbar, wenn sie nichtr , wie im Kammerlohr, unten abgeschnitten ist. Er scheint den Reproduzenten verzichtbar gewesen zu sein. Dabei ist er für die Genese des Kunstobjekts recht aufschlussreich.
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B) Der Anteil des Künstlers
Den Autor eines Kunstwerks stellen wir vor dem Original in der Regel über eine Signatur fest. In diesem Fall ist die Beschriftung mit Namen und Datum am Objekt recht augenfällig, widerspricht allerdings den Angaben in unserem Schulbuch, das Marcel Duchamp als Autor bezeichnet und zwei Daten nennt, 1917 und 1964. Wir müssen also der Bedeutung des Signets nachgehen und erklären, was die Bezeichnung "Replik 1964" bedeutet. Was sagt uns "R. Mutt 1917"?

Nerdinger sagt dazu, dies sei "der Namen einer bekannten Sanitärfirma". Warum signiert Duchamp mit dem Namen eines möglichen Herstellers? Danto weiß es anders: Das Urinal sei "produziert von einer Firma Mott Works" (Danto, "Die Philosophische Entmündigung der Kunst", 1993, S.54) Danto kann auch zum unterschiedlichen Aussehen der Objekte etwas beitragen: "Tatsächlich ging das Original verloren, doch Duchamp hat (in den 60er Jahren!) für die Janis Gallery noch ein weiteres Urinal gekauft und ein drittes für die Galleria Schwartz in Mailand, und später hat er dann sogar eine Auflage von acht Exemplaren nummeriert und signiert, als handelte es sich um eine limitierte Auflage von einem Kupferstich"...Ganz offensichtlich kam es ihm dabei nicht auf gleiches Aussehen an, vielleicht nicht einmal auf die gleiche Herstellerfirma, möglicherweise hat er die Waren auch gar nicht mehr 'selbst im Warenhaus' erstanden, weil das Schleppen so eines schweren Teils im Einkaufsnetz für einen 77jährigen nicht mehr so einfach gewesen sein dürfte. Danto setzt hinter die Schilderung des Ursprünglichen Einkaufs im Jahr 1917 ein "(selbst!)".  Kann es für den Anteil des Künstlers an einem derartigen 'Werk' entscheidend sein, ob er es eigenhändig im Lagerhaus erstanden hat? Nach Berichten seines Galeristen Schwarz schreibt H. Mann von dessen Behauptung, "dass Walter Arensberg, Joseph Stella und Marcel Duchamp Fountain bei Mott Works abgeholt hätten, wobei Arensberg das Urinal bezahlt habe."(H. Mann, S.38)  Es ist also gut möglich, dass bereits der simple Akt eines Einkaufs im Sanitärfachgeschäft noch mehrere Beteiligte involvierte und rechtlich eigentlich derjenige als Käufer zu gelten hat, der die Sache bezahlt. Wenn Duchamp bereits beim Kauf womöglich nicht als der eigentlich Handelnde bezeichnet werden kann, so bleibt noch die Frage, wie es um die Behauptung steht, er habe es ausgestellt. Kann ein Künstler sozusagen eigenhändig sein Werk ins Museum auf einen Sockel stellen? Mit dieser Frage werden wir uns weiter unten auseinandersetzen. Hier nur so viel: Duchamp wollte ganz offensichtlich mit dem Pseudonym keine Autorenschaft beanspruchen oder wollte seine Zuständigkeit verschleiern. Insofern scheint es konsequent, dass er auch nicht selbst das Objekt zur Ausstellung brachte, oder gar ausstellte, oder etwa auf einen Sockel stellte, sondern eine Freundin damit beauftragte."Eine meiner Freundinnen sandte unter dem männlichen Pseudonym Richard Mutt ein Urinal aus Porzellan als Skulptur ein..." (Brief von Duchamp an seine Schwester Suzanne vom 11. April 1917, zitiert in H. Mann, "Marcel Duchamp 1917", S.27)

Zurück zur Problematik der Verschiedenheit der Repliken: Entscheidend scheint die Tatsache zu sein, dass man es als Urinal erkennt, als ein Behältnis zum Auffangen männlicher Notdurft, und dass die Signatur R. Mutt 1917 darauf an ein historisches Ereignis erinnert, das für die Kunstwelt von 1964 an Bedeutung gewonnen hat. Die Repliken behoben sozusagen notdürftig eine kunsthistorische / museale Leerstelle in Ermangelung des Originals. Das in München gezeigte Exemplar stammt aus Stockholm, und es sieht an den Rohrstutzen gebraucht aus. Vielleicht kommt es gar nicht aus dem 'Kaufhaus'. Das individuelle Objekt versteckt sich hinter einer historischen Maske. Wir benützen es um des historischen Objekts wegen.

Betrachten wir die Abbildung in unserem Buch von Klant/Walch, "Grundkurs Kunst", Band 2 auf Seite 166. In dem zweiseitigen Text unter der Überschrift "Die Umwertung aller Werte" ist davon die Rede, daß Duchamp"Gebrauchsgegenstände".."durch ihre Ausstellung zu Kunstwerken erklärte". Um die Jahrhundertwende zum 20. Jh gehörte es zum Selbstverständnis des Künstlers, dass er sein Werk kraft einer originären Erfindung als Autor (Urheber, Schöpfer) konzipierte und zumindest modellhaft als zeichnerischen, malerischen, plastischen Entwurf realisierte. Gerade an der Wende zum 20. Jh wird ein Streit virulent, der eine alte handwerkliche Forderung aktualisiert, die durch die Erfindung von druckgrafischen und plastischen Reproduktionsverfahren in Gefahr zu geraten scheint: Künstlerischen Rang kann nur ein Werk beanspruchen, das der Urheber eigenhändig ins Werk gesetzt hat und das dadurch Orginalität im Sinn von Einmaligkeit erlangt. Im Zusammenhang mit dem Begriff "taille directe" haben wir im Umfeld von Rodin und Maillol diese Auseinandersetzung bereits im Semester 11/1 kennen gelernt. Im Begriff Ready-made wird dieser Forderung nach Eigenhändigkeit widersprochen. Duchamps Fahrrad-Rad kann noch als Montage durchgehen, aber der Flaschentrockner und das Urinoir verdanken weder ihre Erfindung noch ihre Ausführung einem Akt künstlerischer Schöpfung. Im Fall des Fahrrad-Rads ging Duchamp noch einen Schritt weiter. Er beauftragte seine Schwester das Objekt mit seinem Namen zu versehen.
"Wenn Du in meiner Wohnung warst, hast Du in meinem Atelier ein Fahrrad-Rad und einen Flaschentrockner gesehen. Ich hatte es als eine schon fertige Skulptur gekauft. Und hinsichtlich dieses Flaschentrockners habe ich eine Idee: Hör zu. Hier in N.Y. habe ich einige Objekte in demselben Sinn gekauft, und ich behandle sie als >>ready made<<. Du kannst hinreichend Englisch, um die Bedeutung von >>ready made<< zu verstehen, wie ich diese Objekte nenne. Ich signiere sie und gebe ihnen eine englische Beschriftung. Ich werde Dir ein paar Beispiele geben: Ich habe zum Beispiel eine große Schneeschaufel, auf die ich am unteren Rand geschrieben habe: In advance of a broken arm, ins Französische übersetzt: En avance diu bras cassé. Gib Dir nicht zu große Mühe, es im romantischen oder impressionistischen oder kubistischen Sinne zu verstehen - es hat nichts damit zu tun....Du nimmst diesen Flaschentrockner für Dich. Ich werde ihn aus der Ferne zu einem >>Readymade<< machen. Du wirst am unteren Rand auf der Innenseite des Bodenrings in kleinen Buchstaben mit einem Pinsel für Ölfarbe in silberner und weißer Farbe die Inschrift aufmalen, die ich Dir anschließend geben werde, und Du wirst ihn mit derselben Handschrift wie folgt signieren: (durch) Marcel Duchamp." 
(MD an Suzanne Duchamp, seine Schwester, etwa 15.Januar 1916, zitiert in Tomkins, S.188

Weiter bei Tomkins:
"Es war zu spät. Beim Ausräumen seines Ateliers hatte Suzanne sowohl den Flaschentrockner wie das Fahrrad-Rad weggeworfen, die sie für nutzlosen Kram gehalten haben mußte."
(ebenda S.188)

Welchen Sinn kann es machen, wenn in unserem Schulbuch, wie auch in anderen einschlägigen Texten, im Zusammenhang mit Duchamps Urinal von einem >Kunstwerk< gesprochen wird? Ist Duchamps 'Werk' die Erfindung eines neuen Namens für ein altbekanntes Ding? Könnte er sich die Erfindung Ready-made patentieren lassen, wie Yves Klein seine blaue Farbe? Das Buch sagt, daß Duchamp Gegenstände "durch ihre Ausstellung zu Kunstwerken erklärte". Wenn das Urinal denn ein Kunstwerk ist, so bedurfte es einer Deklaration, um es dazu zu machen, und sicher gilt diese Erklärung nicht der Gattung Urinal insgesamt, sondern dem Einzelstück, dem Duchamp als Zeichen seiner Adelung und Weihe in einem Akt der Transsubstanziation sein neues Kunstego, und als äußeres Zeichen, ein Signet verpaßt hat. Was wir an der Abbildung lesen können, ist in der Tat eine Art Signet von Duchamp und liest sich "R. Mutt 1917". Hätte er es (bzw. sie) nicht gekennzeichnet, so könnten wir heute nicht sagen, welche Urinale nun die vermeintlichen Kunstwerke sind und welche nicht. Wir hätten möglicherweise ein gewöhnliches Urinal für Duchamps Fountain gehalten. Dass er es mit einem Namen und einer Jahreszahl versah,  stellt eine Art der "Formatierung" (Stefan Heidenreich) dar, die bei Kunstobjekten üblich ist, während Sanitätartikel eher mit einem Preisschild 'formatiert' werden. 

Eine derartige Erklärung oder Weihe zum Kunstobjekt hat es 1917 aus dem Munde Duchamps nicht gegeben, wenn auch die 'Formatierung', und wie später zu sehen sein wird, die Einsendung zu einer Kunstausstellung eine solche Willensbekundung nahelegen. Die Grundlage für diese Behauptung war zunächst jedoch eine völlig andere: "Nach dem Vorbild der der französischen <Société des Independants> sollten für die geplanten Ausstellungen keine Zensur und keine Vorauswahl durch eine Jury stattfinden, so daß jeder, der die Gebühr bezahlte, auch hätte ausstellen können..." (H. Mann, "Marcel Duchamp 1917", S.21) So gesehen war es ein Beschluss der die Ausstellung durchführenden Künstlergemeinschaft, dass jedes Mitglied einen beliebigen Gegenstand zur Ausstellung einreichen und ihn damit in den Kontext von Kunst transponieren konnte, der die Voraussetzung für Duchamps Versuch schuf.

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Fazit:
Wir lernen daraus, dass sich 1917 in New York jedermann (eine der zahlreichen Geburtsstunden von "Jeder Mensch ein Künstler") an einer Kunstausstellung mit einer beliebigen Einreichung (eine der vielen Geburtsstunden von "alles kann Kunst sein") beteiligen konnte, wenn er eine gewisse Gebühr bezahlte, von der im nächsten Abschnitt noch die Rede sein wird. Wir lernen weiter, daß wir unterscheiden müssen zwischen Kunstwerken, die ein Künstler hergestellt hat, und solchen, die er dazu ernannt, erwählt hat. Aus dem Brief an seine Schwester Suzanne lernen wir darüber hinaus, dass Duchamp der Meinung war, dass selbst ein Signet nicht notwendig eigenhändig gefertigt sein muss. Im rechtlichen Sinn könnte solch ein Vorgang den Tatbestand einer Fälschung erfüllen. Duchamp allerdings hat nie ein Geheimnis aus diesen Vorgängen gemacht, insofern liegt dieser Fall komplizierter als eine gewöhnliche Täuschung durch einen Fälscher. 

Fountain ist kein beliebiger Gegenstand auch wenn Duchamp in Interviews stets behauptete, dass es ihm um ästhetische Indifferenz gegangen sei bei der Auswahl des Objekts. Seine weiße, glänzende Oberfläche weckte Assoziationen ( die Rede war z.B. "vom verschleierten Kopf einer Renaissance-Madonna" oder einem "sitzenden Duddha" oder "einer von Brancusis polierten erotischen Formen") (Tomkins S.219f). Sein Anblick mobilisierte bekannte Bedürfnisse, vermochte körperliche Reaktionen auszulösen. Allerdings zielen die meisten dieser Reaktionen auf nichts was man um 1917 von einem Kunstwerk erwartet haben wird. Kann es sein, dass in Duchamps Biografie ein Hinweis zu finden wäre auf ein besonderes Verhältnis zu dieser Art Material oder Bedürfnis, etwa in dem Sinn, wie man bei Beuys oft die Vorliebe für Filz und Fett mit Hilfe biografischer Fakten erklären will? 1954 musste Duchamp sich einer Prostata Operation unterziehen und schrieb danach in einem Brief an seinen Freund Roché über "ein neues und immenses Vergnügen, wie alle anderen pissen zu können, ein Vergnügen, das ich 25 Jahre lang nicht gekannt habe" (zit in Tomkins S.452). Wenn die Zeitangaben stimmen, dann dürften seine Probleme beim Wasserlassen nicht bis 1917 zurückreichen, aber wer vermag das genau zu sagen?

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C)  Der Anteil des Museums (Ausstellungswesen)
Wer als Besucher den Eintritt in ein Kunstmuseum bezahlt darf damit rechnen, dass er dort Kunst antrifft, die von zahlreichen Fachleuten begutachtet, des Ausstellens für würdig empfunden wurde und in einer Weise präsentiert wird, die den Intentionen seines Autors nicht widerspricht. Von der "Kunst", die überall auf der Welt produziert wird, landet nur ein relativ kleiner Anteil in öffentlichen Museen. Und bis ein Kunstwerk in einem öffentlichen Museum seinen Platz findet, muss es in der Regel eine weite Strecke durch Verkäufe, Sammlungen, Ausstellungen, Versteigerungen zurücklegen. Ein Kunstwerk, das im Museum zu finden ist, hat in der Regel eine dokumentierte Provenienz, das ist so etwas wie ein beglaubigter Lebenslauf. Duchamps Fontäne musste auf einen Platz im Museum rund ein halbes Jahrhundert warten. Manche Kunst schafft das schneller, aber kein Künstler hat ein 'Recht', irgend etwas in irgendein Museum zu stellen. Das sind Märchen.

Unterhalb des öffentlichen, staatlichen oder privaten Museums existiert ein vielschichtiges Ausstellungswesen. Künstlervereine, Messen, Galerien, Ausbildungsstätten wie z.B. Akademien, private Kunstschulen, veranstalten Ausstellungen, Bazare mit "Kunst" von sehr unterschiedlichem Rang. Die "Society Of Independent Atrists Inc."(S.I.A.) in New York wurde 1917 gegründet und existiert heute noch. Gründungsmitglied und einer der 21(!) Direktoren war Marcel Duchamp. Ziel derartiger Vereine war und ist es, für ihre Mitglieder Ausstellungs- und damit Verkaufsmöglichkeiten zu schaffen. Kunstvereine sorgen in der Regel dafür, dass nicht jeder aufgenommen wird. Man benötigt z.B. den Nachweis einer anerkannten Ausbildung, Referenzen durch angesehene Mitglieder, ein öffentliches Renommee etc. In New York 1917 war der Zugang zur Ausstellung monetär geregelt: Man zahlte einen Dollar um Mitglied zu werden und einen Jahresbeitrag von fünf Dollar, der einen berechtigte zwei Werke in der Jahresausstellung zu zeigen. Der Verein mietete Räume zur Ausstellung (Grand Central Palace) an, bestellte eine Hängekommission, besorgte einen Katalog, der damals aus einer Liste der 1235 Teilnehmer(!) und ihrer 2125 Einreichungen(!) sowie über 300 fotografischen Reproduktionen bestand (Mann S.65). Über eine weitere Schrift zur Ausstellung der S.I.A., "The Blind Man", wird weiter unten noch die Rede sein.

Allgemeiner Kernbestand der Ausstellungstätigkeit sind auch eine Ausstellungseröffnung, Vernissage mit geladenen Gästen, mehr oder weniger festlich, mit Reden und Häppchen und eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit in Form von Pressetexten und Plakatierungen. Man kommt heute kaum mehr um die Feststellung herum, dass die Institutionen des Museums, des Kunsthandels (-Markts), der 'Kunstvermittlung', manche sprechen auch von der "Kunstwelt" (Danto, "Wiedersehen mit der Kunstwelt" in "Kunst nach dem Ende der Kunst", S.47-72) andere vom "Kunstsystem" (Beat Wyss - "Vom Bild zum Kunstsystem", Köln 2006), eine maßgebliche Rolle spielen in der Definition dessen, was als Kunst bezeichnet, diskutiert, verhandelt wird.
"Professor Ted Cohen hat behauptet, daß das Werk überhaupt nicht in dem Urinal besteht, sondern in der Geste seiner Ausstellung"...""Cohen rechnet Fountain damit eher dem Genre des Happenings zu, als - wozu ich neige - darin einen Beitrag zur Geschichte der Skulptur zu sehen."(Danto, "Die philosophische Entmündigung der Kunst", S.56)
Heinz Herbert Mann hat überzeugend dokumentiert, dass Fountain 1917 in der Art-Show der Independent Artists nicht ausgestellt wurde, entgegen dem Reglement der S.I.A. Das Objekt verschwand in einer Abstellkammer, "hinter einem Vorhang oder einer Trennwand" (Mann, S.50). Das "historische Foto" dokumentiert offenbar eine Situation im Foto-Atelier von Alfred Stieglitz, das auch für kleine Ausstellungen genutzt wurde. Das Bild im Hintergrund identifiziert Mann mit einem Gemälde Marsden Hartleys, "The Warriors". Hartley war mit Stieglitz befreundet und wohnte zeitweise bei ihm, während Stieglitz ihm Gelegenheit gab, in seinem Atelier Bilder auszustellen. (Mann. S. 135ff)

Ganz offensichtlich war 1917 die Zeit nicht reif für den Einzug von "Springbrunnen" in eine Kunstausstellung, geschweige denn in ein Museum. Nicht einmal die für damalige Verhältnisse extrem niedrige Schwelle einer Society Of Independent Atrists konnte "Springbrunnen" überspringen. Umso interessanter erscheint die Frage, wann "Fountain" schließlich diesen Sprung über die Schwelle eines Museums schaffte. Der Verbleib des ursprünglichen Objekts verliert sich nach 1917 erst einmal im Ungewissen, Nerdinger nannte es "verschollen". 
1951 zeigte die Sidney Janis Gallery in der West 57th Street New York, also auch kein Museum, sondern die Galerie eines Kunsthändlers, eine Ausstellung "Von Brâncusi zu Duchamp", 1953 folgte dort eine Ausstellung zu "Dada (1916–1923)". Das Bild zeigt einen Blick in die Dada-Ausstellung von 1953 bei Sidney Janis mit Fountain über der Tür hängend. Diese Art der Präsentation, die möglicherweise Duchamp selbst auf Wunsch des Galeristen veranlasste oder selbst vornahm zeigt, dass sich zu diesem Zeitpunkt weder die Notwendigkeit eines "Sockels" noch die "auf dem Rücken liegende" Darbietung als zum Objekt gehörend verfestigt hatte, die auf Stieglitz' Fotografie zurückgeht, und von der überall in den Schulbüchern die Rede ist. Das scheint mir auch deshalb als nicht unerheblich, als eine Fotografie von Duchamps "studio at 33W.67thSt., New York 1917" Fountain auch in einer 'schwebenden Hängung' (á la cimaise= an der Hohlkehle) in einem Zimmerdurchgang zeigt. Nach H.H. Mann, dem ich die Abbildung (S.147) entnahm, entstand die Aufnahme möglicherweise kurz vor der Ausstellung bei den Independents 1917.
Nach Tomkins war es eine erklärte Absicht Duchamps mit der Einführung gewöhnlicher Dinge als 'Ready-Mades' in die Späre der Kunst, diese sozusagen "von ihrem Piedestal zu stürzen"( Tomkins S.146), sie zu entmystifizieren. Insofern scheint mir der Sockel für Fountain aus einem anderen Geist von Kunst zu kommen als das Konzept der Ready-Mades.

1951 bat Janis Duchamp für seine Ausstellung Repliken für die beiden "verschollenen" Ready-mades Fountain und Bicycle Wheel zu signieren. Diesem Wunsch kam Duchamp nach. Angeblich hat Sidney Janis sein Urinal in Paris auf einem Flohmarkt selbst erstanden und nach Amerika importiert. Mir fiel nur auf, dass seine Rad-Replik auf einer gekrümmten Gabel montiert ist, anders als bei späteren Repliken, die eine gerade Gabel aufweisen. Sein Urinal zeichnet sich aus durch eine kreuzförmige Anordnung der Ausflusslöcher. Sidney Janis war seit 1934 über Jahre hinweg Leiter der Ankaufskommission des Modern Art Museums. Diesem Museum vermachte er nach seinem Tod Teile seiner Sammlung, z.B. die Fahrrad-Rad-Replik. 

Seine Replik der "Fountain" landete offenbar auf Umwegen über private Sammlungen erst 1998 im Philadelphia Museum of Art als  "Gift (by exchange) of Mrs. Herbert Cameron Morris". (siehe Abb. re.). Dies ist nun wirklich ein Museum, aber nicht Duchamp hat das Urinal dorthin gebracht, denn er ist zu diesem Zeitpunkt bereits vor 30 Jahren verstorben. Eine weitere Replik wurde 1963 von Ulf Linde für Galerie Burén, Stockholm gefertigt und kam möglicherweise 1965 ins Moderna Museet in Stockholm; die Nachbildung besitzt in Großbuchstaben den Schriftzug „R. MUTT / 1917“. Die Signatur stammt angeblich nicht von Duchamp, sondern von Linde (Quelle: Wikipedia), wurde aber nachträglich von Duchamp "beglaubigt". Im Oktober 1964 wurde eine Serie von acht Exponaten für die Galleria Arturo Schwarz in Mailand plus je ein Exemplar für den Künstler und den Hersteller sowie zwei Ausstellungsstücke für Museen angefertigt. Damit war der Einzug von Fountain in mehrere Museen bereitet. Duchamp, der 1968 verstarb, hat also den Einzug seiner Fountain ins Museum gerade noch erlebt.

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Fazit:
Der weite Weg von Duchamps Ready-mades ins Museum wird durch unsere Schulbücher sehr vereinfacht und damit märchenhaft verbrämt dargestellt. Das Museum und das facettenreiche Ausstellungswesen ist den Schulbüchern in der Regel keine Reflexion wert, obwohl die Interpretationen von Objektkunst vielfach gerade die Art der Präsentation (z.B. 'auf einem Sockel', und 'ins Museum') in ihre Überlegungen mit einbeziehen. Mir scheint es ja nicht unerheblich, ob Fountain auf einem -wie immer gearteten- Sockel dargeboten wird, oder wie eine Dusche über der Tür hängend. Im 2. Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, der Geburtsstunde von Fountain, war kein Museum der Welt bereit, Duchamps Provokationen einen Platz in einer öffentlichen Sammlung einzuräumen. Kein Künstler konnte zu dieser Zeit einfach irgendein beliebiges Objekt zur Kunst erklären ohne bei den Institutionen des Kunstbetriebs auf Widerstand und Ablehnung zu stoßen. Mehr als 30 Jahre dauerte es, bis Fountain als kunsthistorisch relevantes Ereignis sozusagen erwachsen wurde und sich in New York ein Galerist in einer Ausstellung in Galerieräumen(!) an eine historische Aufarbeitung von Dada machte. Dabei kam er in Verlegenheit, weil sich "verschollene" Objekte schlecht ausstellen lassen. Immerhin fiel diese Darbietung mit Hilfe der Repliken in New York bei einigen jungen Künstlern und Ausstellungsbesuchern auf recht fruchtbaren Boden, und bereitete so aus heutiger Sicht einen Weg in die Pop-Art, die zu dieser Zeit selbst um Anerkennung kämpfte. Andere in New York ansässige, bereits etablierte und von Sidney Janis vertretene Künstler zogen sich entsetzt aus der Galerie zurück. Die Repliken zeigten jedoch einen Weg auf, der weitere Galeristen in Stockholm, Mailand und London zu Folgeausstellungen inspirierte und damit den Weg bereitete, der wiederum mehr als ein Jahrzehnt später ins erste Museum führte. Insbesondere die Ausstellung der Galerie Schwarz in Mailand ging auf Reise durch viele Hauptstädte Europas und sorgte dafür, dass Fountain und andere Repliken in den Jahren 1964/65 in Galerien und Museen ausgestellt wurden. Die Repliken befinden sich heute in den Sammlungen des Moderna Museet in Stockholm, des Indiana University Art Museums, des San Francisco Museum of Modern Art, im Centre Georges Pompidou, Paris und in der Tate Modern in London, sowie im Philadelphia Museum of Art. Eine Internetquelle listet nach Recherchen von Madeline Hollander den Verbleib von 17 Repliken mit den jeweiligen Abbildungen auf.
http://www.cabinetmagazine.org/issues/27/duchamp.php

Der keineswegs reibungslose Weg ins Museum führt über diverse Hürden, Institutionen, die Kunst ausstellen. Künstlervereinigungen, wie die Society Of Independent Atrists Inc., Galerien, wie die von Sidney Janis sind wie Haltestellen auf diesem Weg. Wie beim öffentlichen Verkehrsmittel gibt es prominentere Haltestellen und solche, wo selten jemand ein- oder aussteigt. Auch Museen sind heute häufig Orte wechselnder Ausstellungen. Dabei muss das Museum nicht Eigentümer der ausgestellten Stücke sein, die oft nur als Leihgaben aus privaten Sammlungen zur Ausstellung gebracht werden. Den Eigentümern hilft das ebenso wie den Künstlern, weil die Leihgaben sozusagen vorübergehend eine öffentliche Präsenz im Kunstsystem zeigen, weil diese Präsenz sich in Katalogen, Kritiken, Publikationen, Reproduktionen und in der Erinnerung des Kunstpublikums niederschlägt. Nicht alles, was irgendwo ausgestellt wird ist damit schon im Kunstsystem etabliert.

Um im Museum zu landen mussten Dada und die Objektkunst erst zum kunsthistorischen Begriff werden. Das aber geht zunächst auf das Konto von Freunden und Sympatisanten, Sammlern, Galeristen und Publizisten, die über Ausstellungen, Reproduktionen, Kataloge, Kritiken, Textpublikationen erste Einschätzungen, Einordnungen vornehmen. In der Beziehung scheinen wir heute bereits einen Schritt weiter zu sein, weil auch Museen inzwischen vielfach ihre konservatorische Aufgabe nicht mehr genügen und sie sich als Wegbereiter für 'zeitgenössische' oder besser zukünftige Kunst sehen.

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D) Der Anteil der Kritik (Publizistik)
"Duchamp"..."nahm ein im Handel erhältliches Pissoir, stellte es"..."auf einen Sockel"..."und nannte es >>Springbrunnen<<"..."Er löste damit einen Sturm der Entrüstung aus..."(Nerdinger S.277). 
"Duchamp"..."löste mit diesen Objekten Skandale aus..."(Schroedel Grundkurs Kunst 2,S.165)
"Als Duchamp 1917 ein umgekipptes Urinal mit dem verfremdenden Titel "Fontäne" versah und unter dem Namen R. Mutt zu einer Ausstellung einreichte, löste er damit einen Skandal aus." (Kammerlohr "Epochen der Kunst 5", S.93f)

Unsere Schulbücher sprechen im Zusammenhang mit 'Fountain' von einem 'Skandal'. Wie wir nun bereits wissen, kann der Skandal nicht die öffentliche Ausstellung von Fountain gewesen sein, die 1917 ja nicht stattfand. Skandale sind Ereignisse, die erst durch eine breite Resonanz in der Presse und anderen Medien öffentlich Aufmerksamkeit für ein Kunstereignis herstellen. Skandale sind publizistische Ereignisse, die im 19. Jh als wirksame Werbemittel erkannt und seither regelmäßig inszeniert oder behauptet werden um die Neugier eines möglichen Publikums auf das Kunstereignis zu lenken, damit Besucher in Vorführungen und Ausstellungen zu locken und gleichzeitig einen Informationsdurst zu generieren und zu steuern, der der Presse hohe Auflagen sichert, was die bloße Ankündigungen oder sachliche Kommentierungen einer Ausstellung oder eines einzelnen Exponats nie erreichen könnten. Im Fall von 'Springgbrunnen' gab seine Nichtausstellung den möglichen Anlass für einen 'Skandal'. Schon denkbar, dass die Ausstellung eines Urinals im Kontext der Kunstausstellung einer Künstlervereinigung oder einer Galerie auch zu öffentlicher Empörung etwa in der Presse hätte führen können. Aber dazu kam es hier ja nicht. Zum Skandal eignete sich schon eher, dass eine juryfreie Ausstellung ein eingereichtes Objekt entgegen ihrer eigenen Satzung sozusagen unterschlug. Dabei war es zunächst besser, wenn das strittige Objekt selbst nicht zu sehr in den Vordergrund gerückt wurde. Jeder Leser einer New Yorker Zeitung hätte sich klar der Meinung der S.I.A. angeschlossen, dass ein Urinal in einer Kunstausstellung fehl am Platz ist. Fünf Tage nach Eröffnung der Ausstellung erschien ein kleinerer Artikel im New York Herald:
"...Marcel Duchamp...The painter of 'Nude Descending a Staircase' fame has declared his independence of the Independent Society of Artists, and there is dissention in the ranks of the organization that is holding at the Grand Central Palace the greatest exhibition of painting and sculpture in the history of the country. It all grew out of the philosophy of J.C. Mutt, of Philadelphia, hithero little known in artistic circles. When Mr. Mutt heard that payment of five dollars would permit him to send to the exhibition a work of art of any description or degree of excellence he might see fit, he compiled by shipping from the Quaker City a familiar article of bathroom furniture manufactured by a well known firm of that town. By the same mail went a five dollar bill. To-day Mr. Mutt has his exhibit and his $5; Mr. Duchamp has a headache, and the Society of Independent Artists has the resignation of one of its directors and a bad disposition. After a long battle that lasted up to the opening hour of the exhibition, Mr. Mutt's defenders were voted down by a small margin. "The fountain', as his entry was known, will never become an attraction - or detraction - of the improvised galleries of the Grand Central Palace, even if Mr. Duchamp goes to the length of withdrawing his own entry, 'Tulip Hysteria Co-ordinating', in relation. "The Fountain", said the majority, "may be a very useful object in its place, but its place is not an art exhibition, and it is, by no definition, a work of art."( New York Herald, April 14, 1917, zit in H.H. Mann, S.29)
Das Objekt selbst ist hier elegant und etwas nebulös umschrieben, die Ungerechtigkeit der Ausstellungsverweigerung steht im Vordergrund und der Rücktritt eines der Direktoren der S.I.A., Marcel Duchamp, beleuchtet den Dissens ("after a long battle") innerhalb der Organisation. Das Mysterium um den angeblichen Einsender Mr. Mutt wird um eine erfundene Herkunft aus Philadelphia erweitert und die Drohung von Duchamp, seine eigene Einreichung zurückzuziehen, bringt einen weiteren Scherz ans Tageslicht: Ein Bild mit dem mysteriösen Titel 'Tulip Hysteria Co-ordinating' hat es nie gegeben. Für einen Skandal macht der Artikel zu wenig her, auch wenn er die Ausstellung in ihrer Bedeutung und Größe überdimensional aufbläst. Wieder eine Woche später erscheint ein Artikel über die Ausstellung in der "New York Sun", in der der angebliche 'Skandal' keinerlei Erwähnung findet. Ein Jahr später schreibt Guillaume Apollinaire in einer französischen Zeitschrift ("Mercure de France") über "Le cas de Richard Mutt", wobei er die Hintergründe nur teilweise beleuchtet, Duchamps Rolle in der Intrige aber verschweigt. Er stellt die Sache als Scherz dar und vergleicht sie mit einem anderen Scherz, den sich1910 französische Künstler bei einer Ausstellung der Unabhängigen in Paris erlaubt hatten, als sie Malereien, die ein Esel ("Maitre Boronali")  mit seinem in Farbe getauchten Schwanz hergestellt hatte, zur Ausstellung gebracht hatten. Von einem "Skandal" ist auch bei Apollinaire nicht die Rede, eher von der Humorlosigkeit oder Inkonsequenz der Amerikaner gegenüber der Freizügigkeit der Franzosen, bei denen die Bilder des Esels selbstverständlich zur Ausstellung gelangt waren. 

Woher also kommt die Rede von einem "Skandal" im Zusammenhang mit Fountain?
Heinz Herbert Mann hat sich in seinem Buch "Marcel Duchamp:1917" die Mühe gemacht und wohl die meisten historischen Texte gesichtet, die es zu "Fountain" gibt. Dabei wird deutlich, dass gegen Ende der 1950er Jahre das Interesse am 'Fall R. Mutt' erwachte und ganz im Stil einer Flüsterpost mehrere Autoren das reale Ereignis mit Kommentaren, Gerüchten, Phantastereien umstellten, die andere nachbeteten und mit neuer Wortwahl umkleideten. 

Beispiele:
Über die Auseinandersetzungen im der S.I.A. um die Einreichung von Fountain erzählt Ira Glackens 1957 über seinen Vater William (1917 Vorsitzender der S.I.A.) folgende Geschichte: 
"The executive committee stood around discussing the thorny problem. Presumably the best art brains in the country were stumped. Nobody noticed William Glackens leave the group, quietly make his way to a corner where the disputed object d' art sat on the floor beside a screen. He picked it up, held it over the screen, and dropped it. There was a crash. Everyone looked around startled. "It broke!" he exclaimed." (Mann, S.37)
Schwarz erfindet einen Kauf von Fountain durch Walter Arensberg in der Ausstellung der S.I.A.
Arensberg "...went to the show and asked to see 'the fountain by R. Mutt.' The officials said they had never heard of it. "I know better than that", said Arensberg...."I want to buy it."...."Arensberg"..."took out his checkbook and announced that he would buy it sight unseen. "Fill in the amount yourselves", he said..." (Mann, S.37)
In einem Interview legt Pierre Cabane 1972 Duchamp den Begriff "Skandal" in den Mund: 
Duchamp: "...mein Pissoir war wirklich eine Herausforderung.
Cabane: "Dann mußten Sie doch eigentlich zufrieden sein, Sie hatten den Skandal ja gewollt.
Duchamp: "Das war ich auch. Denn in dieser Hinsicht war es wirklich ein Erfolg."   (Mann S.42)
Arturo Schwarz, Ira Glackens, Pierre Cabanne, Beatrice Wood  und andere umsponnen als Erste das Urinal mit dem Garn, der aus einem Witz einen Skandal macht und aus einem Pissbecken erst ein "Kunstwerk", eher noch ein Objekt der Kunstgeschichte. Wie oben schon gezeigt, sorgte der Mailänder Galerist Arturo Schwarz auch dafür, dass das bereits in den Kunsthimmel aufgefahrene Objekt in zahlreichen Repliken seine Wieder-Auferstehung (Re-in-porcellanierung) feiern konnte und wir es heute im Museum beäugen und bestaunen dürfen.
 
Die Ready-mades nehmen "im Buch oder in der Zeitschrift reproduziert, die Gestalt von Kunstwerken an, von Plastiken mitunter, die nicht Duchamp, sondern der Photograph dank der Beleuchtung, des Bildausschnitts und des ausgesuchten Bildwinkels hergestellt hat. Als Abbildungen also machen die Ready-mades eine ästhetische Dimension geltend, "..."die den Originalen in keiner Weise eigen ist."( Hans Platschek, zitiert in H. Mann, S. 94)
Bleibt noch das Faktum, dass Duchamp und seine Freunde selbst die literarische Verklärung des Falls R. Mutt bereits 1917 in Angriff genommen haben, indem sie eine Zeitschrift ins Leben riefen, "The Blind Man". Die erste Ausgabe feiert mit einem Aufsatz von Pierre Roché die S.I.A. als eine neue, revolutionäre, liberale, gerechte Form Kunst nach einem aus Frankreich importierten Geist in der amerikanischen Öffentlichkeit zu präsentieren und bereitet das Publikum auch recht pathetisch vor auf die Risiken, die so eine Öffnung der Meinungsfreiheit erwarten lässt: "Die Stunde ist gekommen. Die große Gemeinschaft ist da, Leute, die das seltsame Gefühl verspürt hatten mit Farbe und Pinselstrichen auf gespannten Leinwänden ein bißchen ihrer Seele und ihrer Zeit auszudrücken - Wahnsinnige!" (Zit. und Übersetzung aus H.H.Mann S.60) Das Konzept der Ausstellung erweckte demnach Erwartungen, die ein Objekt "Fountain" bestens erfüllt hätte. Die Show zeigte 2125 Arbeiten von 1235 Künstlern, die in alphabetischer Reihenfolge angeordnet waren, um jeglicher Wertung durch eine Hängungskommission aus dem Weg zu gehen. Auch darüber findet sich eine aufwändige Rechtfertigung in der Zeitschrift ("Work of a Picture Hanger" und "Dream of a Picture Hanger" verfasst von Beatrice Wood, einer Freundin Duchamps). Darüber hinaus schreibt Wood einen Aufsatz "Why I Come to the Idependents" und zitiert darin eine Reihe von Dingen, die sie in der Ausstellung zu sehen erwartet. Laut H.H. Mann liest sich die Beschreibung dieser Dinge wie ein Atelierbesuch bei Duchamp, ohne dass allerdings sein Name erwähnt würde. Die zweite und bereits letzte Nummer von "Blind Man" erscheint einen Monat später und ist ganz auf den "Fall Mutt" konzentriert. Roché, Wood und Duchamp gelten als Autoren wie bei Ausgabe 1. Die Schokoladenreibe auf dem Titelbild steht für den zurückgetretenen Direktor der S.I.A., Marcel Duchamp, während im Geheft die Fotografie des "Fountain" von Stieglitz für den ausjurierten Beitrag des R. Mutt gezeigt wird und ein 'Bericht' sowie ein Kommentar über "The Richard Mutt Case" den Vorfall um das Urinal literarisch beleuchten bzw vernebeln.

Einen großen Erfolg kann "The Blind Man" 1917 nicht gehabt haben. Henri-Pierre Roché erzählt darüber in seinen romanhaften Lebensbeschreibungen, welche Mühe er und Beatrice Wood (im Roman nennt er sie Patricia) gehabt hatten um die vierzig Dollar für das Papier aufzutreiben und die Werbung einer Zigarettenfirma zu requirieren, mit der der Druck finanziert wurde. Die Orthodoxen in der S.I.A. witterten die Provokation gegen ihr Kunstverständnis und erschwerten den Verkauf so gut sie konnten:
"Patricia und eine Freundin sollten, als Sandwichfrauen kostümiert Sensationsplakate tragen und vor dem Eingang der Ausstellung auf und abgehen. Das wurde verboten. Eine hübsche Verkäuferin sollte die Zeitschrift, die fast nichts kostete, neben der Kasse feilbieten, wenn die Leute ihren Geldbeutel zückten. Das wurde verboten. Der Stapel Zeitschriften lag ganz allein auf einem Tisch und langweilte sich. Er blieb unangetastet. Ein befreundeter Buchhändler verkaufte sie bei sich. Später wurde sie zum Sammlerobjekt." ( H.H. Mann S.47)
Die Strategie, die Duchamp mit "The Blind Man" verfolgte, war nicht unmittelbar erfolgreich. Und doch ging sie letztlich auf, weil der "Fall R. Mutt", wie auch das nicht ausgestellte Objekt Fountain zumindest in literarischer und fotografischer Form dokumentiert waren. Darauf konnten die späteren Exegeten des Falls zurückgreifen und taten es auch mit dem Erfolg, dass Fountain zu einem Schlüssel für das Verständnis der Kunstgeschichte des 20. Jh wurde.

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Fazit:
Die Kritik an Fountain kam 1917 zu allererst aus den Reihen der "Society Of Independent Atrists Inc."(S.I.A.). Den orthodoxen Kreisen der New Yorker Künstlerschaft ging die Provokation, die das Objekt in ihren Augen darstellte, zu weit. Entgegen ihrer liberalen Satzung wollten sie dem Objekt die 'Würde' als Kunstwerk nicht zubilligen. Selbst die inhaltliche und öffentliche Auseinandersetzung mit dem Fall "R.Mutt" wurde vermieden, niemand gab von offizieller Seite eine öffentliche Stellungnahme zum Ausschluss ab und ganz offensichtlich entstand auch kein öffentlich wirksamer Druck auf die S.I.A. die Entscheidung zu rechtfertigen. Das Ereignis wurde als schlechter Witz eingeordnet, und über Witze können manche lachen, während sich andere darüber ärgern oder die darin enthaltene Provokation abprallen lassen. Fountain stellt die Frage nach den Grenzen des Kunstverstandes, die 1917 nicht zum ersten Mal gestellt wurde. Die S.I.A. reagiert auf diese Fragestellung, der sie selbst ihre Existenz verdankt, mit Restriktion etwa nach dem Motto: "Irgendwo müssen einem Begriff Grenzen gezogen werden, sonst löst er sich auf!" Damit ist ein Dilemma der modernen Kunstkritik markiert, wie auch eine Strategie der Künstler umrissen: Wer die Aufmerksamkeit der Kunstkritik herausfordern will, muss an den Grenzen des Kunstverständnisses rütteln oder sie möglichst provokant und spektakulär überschreiten. Das geht nur, wenn er sich der Kritik stellt, ihre Medien instrumentalisiert oder gezielt selbst nutzt. Die Rede vom "Skandal" um den Fall R. Mutt scheint mir doch überzogen. Der Versuch der Skandalisierung war erfolgt mit Duchamps Rücktritt als einer von 21 Direktoren der S.I.A. Das scheint verschmerzbar. Wenn man aber jeden Streit zwischen Künstlern, Missfallenskundgebungen des Publikums in Ausstellungen oder in publizierten Kritiken als Skandal bezeichnen wollte, verlöre man die Dimensionen aus dem Auge, die ein öffentliches Interesse an Kunstereignissen besitzen.
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4. Der Anteil des Betrachters
Duchamp hat sich mehrfach über die Rolle des Betrachters in einem Sinn geäußert, dass dieser einen nicht unerheblichen Anteil am sogenannten "kreativen Akt" hat. Dabei sah er den Betrachter eher als eine Institution im Kunstbetrieb, sozusagen als das Kunstpublikum. Während  Künstler sich oft enttäuscht zeigen über Publikumsreaktionen und vermeintliche Missverständnisse ihrer Intentionen, scheint Duchamp Spaß gehabt zu haben an den unterschiedlichsten Publikumsreaktionen auf seine Aktionen und Objekte. In Interviews äußerte er sich gern mehrdeutig und forderte so zu kontroversen Ausdeutungen heraus.

Duchamp war offenbar der Meinung, dass der Künstler nur einen Teil des schöpferischen Aktes vollbringe. Er, der Künstler, sei dabei ohne jedes wirkliche, volle Verständnis für das, was er tue, sondern handle wie eine Art Medium, das etwas in die Welt setzt, zum Ausdruck bringt, was seine geistigen Dimensionen erst in einem Kommunikationsprozess mit einem Publikum zur Entfaltung bringt. Ein derartiges Verständnis vom schöpferischen Akt relativiert die Bedeutung des Originals, das zwar Ausgangspunkt, Quelle, Ursprung bleibt, aber erst im Lauf durch Zeit und Raum als "Werk" zur Entfaltung kommt oder aber versiegt, und damit wieder aus der Geschichte und dem Gedächtnis der Menschheit verschwindet.
"Millionen von Künstlern kreieren; wenige Tausende nur werden vom Zuschauer diskutiert oder akzeptiert, und noch weniger werden von der Nachwelt angenommen und geweiht. Letzten Endes mag der Künstler noch so sehr von allen Hausdächern herabschreien, er sei ein Genie - er wird das Verdikt des Zuschauers abwarten müssen, damit seine Erklärungen einen sozialen Wert bekommen und die Nachwelt ihn schließlich in den Handbüchern der Kunstgeschichte erwähnt." (Duchamp, "Der kreative Akt", zitiert in C.Tomkins, S.572)
Die Wertschätzung eines Objekts als einen Gegenstand von kunstgeschichtlicher Bedeutung kann man also getrost unterscheiden von der schlichten Kreation durch einen Künstler oder der Begeisterung eines Betrachters oder Publikums für ein im Kunstsystem zur Aufführung gebrachtes 'Werk'. Der Philosoph und Kunstschriftsteller Arthur C. Danto, der in seinen Schriften ein großes intellektuelles Vergnügen für die Kunst Duchamps gezeigt hat, macht diese Differenz im folgenden Zitat recht deutlich:
"Fountain gefällt nicht jedem Freund der Kunst, und ich muß gestehen, daß, wenn ich es geschenkt bekäme, ich es bei aller philosophischen Bewunderung doch baldmöglichst gegen nahezu jeden Morandi oder Chardin eintauschen würde - oder auch, da man es auf dem Kunstmarkt ja gern ein wenig übertreibt, gegen ein mittelgroßes Schlößchen an der Loire." (Danto, "Die philosophische Entmündigung der Kunst", S.56)

Die Rolle des Betrachters im modernen Kunstsystem ist vielschichtig und hängt auch damit zusammen, dass die real existierenden Vorstellungen von Kunst historisch gewachsen sind und traditionalistische Ideen neben aufgeklärten und modernistischen gleichzeitig von der Kunst bedient werden und im Publikum ihre Anhänger finden. Hatten Bilder und Plastiken "vor dem Zeitalter der Kunst" (Belting) maßgeblich eine kultische Funktion, so war vom "Betrachter" eine religiöse Haltung gefordert, die dem nüchternen Begriff "Betrachtung" eher nicht entspricht, sondern Andacht meint. Kultische Bilder wenden sich an Gläubige und die erwarten vom Bild heilspendende Kräfte. Ins Profane übertragen bleibt davon seit der Renaissance die Erwartung von Erbauung und Erhebung. Gläubigkeit tritt in den Hintergrund und Kennerschaft im Sinn von vorwiegend literarischer Bildung nimmt nun den ersten Rang ein. "Der Umgang mit Kunst ist eine säkularisierte Form der Bildfrömmigkeit." (Beat Wyss, "Vom Bild zum Kunstsystem". S.89) Das frühe Kunstpublikum erwartet in Bildern und Plastiken Dinge zu sehen, die ihm aus der Literatur geläufig sind, die aber seine Vorstellungen sinnlich verdichten und bildhaft vergegenständlichen. Kennerschaft erfordert nun vom Publikum die Fähigkeit des Vergleichs der Werke untereinander, des persönlichen Stils der Künstler, eine Neugier gegenüber Besonderheiten, Eigenwilligkeiten eines Autors und seiner 'Handschrift' immer im Verhältnis zu dem, was als gängiges Muster gilt.  Im 18./19. Jahrhundert löst sich die bildende Kunst zunehmend aus dieser Bindung an die Literatur und entdeckt das Ästhetische als eigenen Wert. Das sinnliche Vergnügen am 'reinen Sehen' entspringt dem visuellen, 'retinalen' Reiz von Farbe und Form, Kunst wird zunehmend selbstreferentiell, autonom. Geschmack und Genuss werden zu Kategorien der Kunstbetrachtung.

Das 19. Jh ist geprägt von einem Wandel des Kunstpublikums. Religiöse und höfische Kunst findet vielfach ein neues Zuhause im Museum und das Publikum rekrutiert sich nun nicht mehr aus Kirche und Adel. Öffentliche Museen eignen sich nicht als Orte religiöser Andacht. Bürgerliche Betrachter erwarten von musealer Kunst keine Wunder, doch bleibt eine Bewunderung, die sich allerdings nun eher auf die Schöpfer der Werke richtet, die man im Positiven als Genie verehrt, im Negativen als Schmierfink, Kleckser, Stümper verdammt

Ein wachsendes Interesse des bürgerlichen Publikums richtet sich auf neue, zeitgemäße Inhalte, über die nationale oder republikanische, damit bürgerliche Identität vermittelt wird, oder auch nur ein soziales Milieu beschrieben ist, mit dem man sich identifizieren kann. Ein neuer Reichtum lässt einen neuen Kreis von Sammlern entstehen und ein System der Vermarktung, in dem sich Galerien, Verkaufsausstellungen, Messen und dem entsprechende Formen der Publizistik herausbilden. Die Handelsware Kunst weckt ein finanzielles Interesse am Preis, an Konkurrenz, an Investition und an Spekulation. Dabei bleibt Kunst auch als Handelsware ein Exot insofern, als es im wesentlichen um das Einzelstück geht, das als Unikat einzigartig und unverwechselbar sein soll. 
Um die Wende zum 20. Jh fordert die Moderne eine Besinnung auf das 'Ursprüngliche', das sie in Zivilisationsferne und Primitivismen entdeckt und wodurch sie den Künstler auf eine neue "Wahrhaftigkeit" verpflichten möchte. Unverstelltheit und Unmittelbarkeit im künstlerischen Ausdruck fordern andererseits ein Publikum, das auch die Bilder unmittelbar auf sich wirken lässt, sozusagen mit einem unschuldigen Auge. Kunstgeschmack ist damit keine rationale Instanz mehr, sondern enthält die Fähigkeit des Mitempfindens, der Aufnahme der geistigen Schwingungen, die von der Seele des Kunstwerks ausgehen. Das klappt natürlich nicht immer uns nicht sogleich, bedarf vielleicht einer eigenen Dressur des Publikums. "Der Zuschauer heutzutage ist aber selten zu solchen Vibrationen fähig." (Wassily Kandinsky, "Über das Geistige in der Kunst", S.23)

Das Jahrhundert klingt aus mit einer Kunst, die aufrütteln, provozieren will. Der Schock, den ein impressionistisches Werk entgegen der Absicht des Künstlers noch beim Publikum auslösen konnte, wird nun als werbewirksames Mittel von den Künstlern funktionalisiert. Futuristen, Fauvisten, Kubisten, Dadaisten und Surrealisten kalkulieren mit der Empörung, dem Skandal, dem Schock und das Publikum scheint bald genau nur noch das von den Modernen zu erwarten. 

Heute zeigt sich das Publikum zeitgenössischer Kunst meistens gestählt (oder abgestumpft) gegenüber Provokationen. Spektakuläres, Monströses wird als Unterhaltung erwartet und muss hübsch angerichtet zum Event gestylt werden. Dann wird Kunst zu einem Kassenmagnet, in dessen Feld sich als gesellschaftlicher Treffpunkt einerseits Massen in Schlange durchs Museum schieben, andererseits sich etwa auf Messen oder Vernissagen ein geladenes, recht bunt und exklusiv erscheinendes Völkchen von Prominenz, Celebrities und Adabeis "mit dem Rücken zur Kunst" (Wolfgang Ullrich) bei Häppchen und Prosecco gegenseitig seiner Kultiviertheit versichert.

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Fazit:
"Nur wer das Kunstsystem versteht, versteht das Bild." (Beat Wyss, "Vom Bild zum Kunstsystem". S.118)
Duchamps Fountain war hier ein Beispiel dafür, dass wir Kunst heute nicht betrachten sollten als bloßen Ausdruck, als Vergegenständlichung eines künstlerisch tätigen Individuums, das mit mysteriösen Gaben und magischen Kräften ausgestattet ist. Was ein Künstler in die Welt setzt, das muss sich in einem gesellschaftlichen Umfeld behaupten, das wir als Kunstsystem bezeichnen können. In diesem System spielen die ebenfalls künstlerisch produktiven Zeitgenossen eine Rolle als Konkurrenten, spielt ein Kunstverständnis der Zeit eine Rolle, das inkorporiert ist in Traditionen der Kunstwissenschaften und der Kunstkritik sowie im Sammlungswesen z.B. der Museen. Schließlich spielt heute ein Kunstmarkt eine entscheidende Rolle, in dem sich nicht nur Verkäufer, Käufer, Publizisten, Verkaufsförderer, Kritiker und Spekulanten tummeln, sondern auch ein Publikum, das mit seinen Vorlieben und Vorurteilen, mit seinem Kunstverstand oder Unterhaltungsbedürfnis, mit Ignoranz oder Manipulierbarkeit auf die Versuche, Strategien des Systems reagiert.

Kaum ernsthaft ist vorstellbar, dass ein Betrachten von Fountain heilende Kräfte entfalten könnte. Wenn das Objekt 1917 dennoch den Titel "Buddha of the Bathroom" (The Blind Man) erhielt, dann erschließt sich dieser Witz nur dem, der die darin verpackte Anspielung an quasi religiöse Erwartungen eines falsch orientierten Kunstpublikums erkennt und die Meinung teilt, dass von Kunst heute kein Heil mehr zu erwarten ist. "Fountain" scheint mir auch nicht geeignet die Erwartung von Erbauung und Erhebung zu befriedigen. Für den Kenner von Brunnenplastik kann der Titel "Fountain" nur als Witz verstanden werden. Ein Vergleich etwa mit dem Wittelsbacher Brunnen in München oder der Fontana di Trevi in Rom ist selbst dann nicht leicht nachvollziehbar, wenn man zugeben muss, dass auch "Fountain" ein sprudelnder Quell der Erkenntnis sein kann und dass auch in andere Brunnen sich gelegentlich jemand eines kleineren Bedürfnisses entledigen wird. Über ein mögliches sinnliches Vergnügen beim Anblick von "Fountain" macht sich Danto lustig: "Wie sehr es doch dem Kilimanscharo gleicht! Wie das weiße Strahlen der Ewigkeit! Wie arktisch erhaben!" (Danto "Die Verklärung des Gewöhnlichen", 1991, S. 148). Danto gibt uns auch einen Hinweis, wie wir Fountain heute als Kunstobjekt betrachten und damit akzeptieren können: "Die Eigenschaften, die das in die Kunstwelt gestellte Objekt besitzt, hat es mit den meisten Stücken der industriellen porcelainerie gemeinsam; die Eigenschaften, die Fountaine als Kunstwerk besitzt, hat es mit dem Grabmal für Julius II. von Michelangelo und der Bronzestatue des Perseus von Cellini gemeinsam." (Danto, ebenda S. 148) " und "...das Werk selbst besitzt Eigenschaften, die dem Urinal fehlen: es ist gewagt, unverschämt, respektlos, witzig und geistreich."(Danto, ebenda S. 147) Der Witz, Geist, das Wagnis, die Unverschämtheit und Respektlosigkeit, die Danto "Fountain" hier bescheinigt, erschließen sich nicht durch Augenschein, sondern -wenn überhaupt- im Betrachten des gesamten Werdegangs, in dem sich ein gewöhnliches Urinal über eine Zeitspanne von nahezu einem halben Jahrhundert in ein Objekt der Kunstgeschichte verwandeln konnte. "Die einmalige Störung des Kunstsystems durch eine dadaistische Provokation ist durch Wiederholung zur künstlerischen Strategie geworden, die mittlerweile seit fünfzig Jahren die Gegenwartskunst als ästhetisches Diskurs-Trauma beherrscht." ..."Der Duchamp der Dada-Zeit hatte mit dem Ready-Made bezweckt, die Idee des Kunstwerks zu verabschieden und damit die Institution Kunst in Frage zu stellen. Das ist bei der Wiederaufnahme vergessen worden. Die Nachahmer der sechziger Jahre übernehmen das Deckbild, um weiterhin Kunst zu machen: mittels Provokation, was die Institution Kunst inzwischen gegen jeden erdenklichen Angriff immun macht." (Beat Wyss, "Vom Bild zum Kunstsystem". S.100f) Ob diese Transsubstanziation eines Objekts der Sanitärporzellanerie Bestand haben kann, das mag sich in Zukunft erweisen.

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Quellen
"Die Verklärung des Gewöhnlichen", Arthur C. Danto, 1991,
"Die philosophische Entmündigung der Kunst", Arthur C. Danto, 1993
"Wiedersehen mit der Kunstwelt" in "Kunst nach dem Ende der Kunst",Arthur C. Danto, 1996
"Marcel Duchamp", Biografie von Calvin Tomkins, München 1999
"Marcel Duchamp: 1917" von Heinz Herbert Mann, München 1999
"Vom Bild zum Kunstsystem", Beat Wyss , Köln 2006

http://www.mann-portal.de/publikationen.html
Manns Arbeit erscheint mir als eine spannende und sehr sorgfältig recherchierte Untersuchung zahlreicher Publikationen zur "Fountain" unter Einbeziehung der durch Duchamp gesteuerten Publikationen in "The Blind Man". Außerdem klärt Mann einige Umstände der historischen Fotografie von Stieglitz auf, die weder in der Abbildung bei Nerdinger, noch bei Belting zu sehen sind. So weist er nach, dass Stieglitz das Urinal vor ein Bild von Marsden Hartley ("The Warriers") platziert hat, und er macht auch eine Art Packzettel am Objekt sichtbar, der offenbar die Einreichung des Objekts zur Ausstellung der Independents belegt.

Im KUSEM existiert eine weitere Seite zu Fountain:
http://www.kusem.de/lk/kuwerk/duset.htm

http://www.toutfait.com/issues/issue_3/Collections/rrs/shearer.htm 
Eine Seite von Rhonda und Roland Shearer über Marcel Duchamp. Unter anderem geht sie hier der Frage nach, woher Duchamp seinen legendären "Springbrunnen" hatte und vergleicht das von Stieglitz dokumentierte Exemplar mit historischen Abbildungen aus zeitgenössischen Sanitärkatalogen.