Franz Billmayer, Kunsterziehung als Dienstleistung, November 1997
 
 
KUNSTERZIEHUNG ALS DIENSTLEISTUNG
     DIE SITUATION
     Kunsterziehung ist Teil der Schule, Teil des Bildungswesens und damit Teil des dritten Sektors. Die Dienstleistung der Schule besteht darin, bei den Schülern Veränderungen von Wirklichkeitsmodellen herbeizuführen (gemeinhin als Lernen bezeichnet), bzw. die Schüler zu befähigen, Wirklichkeitsmodelle in Frage zu stellen, neu zu erfinden oder anzupassen. Die Wirklichkeitsmodelle sollen es den Schülern ermöglichen, in der Welt zurecht zu kommen. In den Bildungseinrichtungen werden die einzig wesentlichen Ressourcen im rohstoffarmen Mitteleuropa erzeugt und gefördert: Kenntnisse, Haltungen und Verhaltensweisen.

      Schule soll auf das sogenannte Leben vorbereiten. Das schulisches Handeln und Denken sind also auf zukünftige Situationen zu richten. Die Frage muß folglich lauten, wie sieht die Wirklichkeit aus und vor allem, wie wird und wie soll eine zukünftige Wirklichkeit aussehen. Und dann: welchen Beitrag zu ihrer "Bewältigung" bzw. "Erzeugung" kann die Kunsterziehung leisten? Wie ist die Umwelt des Produktes Kunsterziehung beschaffen? Wie muß die Dienstleistung Kunsterziehung sich möglicherweise ändern, um nachgefragt zu werden? Welche spezifischen Problemlösungen hat sie anzubieten?

      Alle - nicht nur die Sonntagsredner - sind sich darin einig, daß wir in einer Welt der Bilder leben. Wenn nicht alles täuscht, wird sich ihr Einfluß in Zukunft eher noch verstärken. Die weiter wachsenden Informationsmengen zwingen zunehmend zu Visualisierungen. Die Schule ist allerdings nach wie vor ein Betrieb, dessen Hauptaugenmerk der sprachlichen Ausbildung gilt. Bilder sind bestenfalls Mittel des Unterrichts. Als Unterrichtsgegenstände kommen sie - wenn überhaupt - nur am Rande vor. Kunsterziehung, das einzige Fach, das sich explizit mit Herstellung und Wirkung von Bildern beschäftigt, wird nach der Pubertät, wenn die Schüler sich die Fragen nach der Wirklichkeit stellen, marginalisiert (1).  Kunsterziehung bringt so die überwiegende Mehrzahl der Schüler mit Kindheit, Fingerfarben und angenehmem Zeitvertreib in Verbindung. Für sie bestehen die Probleme vor allem darin, "richtig" zeichnen zu können und möglichst keine Themen mit Hilfe des Malkastens lösen zu müssen, weil da die Farben so leicht ineinander laufen. 

     Kunsterziehung hat ständig mit Legitimierungsproblemen zu kämpfen. In den aktuellen Bildungsdebatten taucht das Fach kaum auf, obwohl sein Gegenstand die Bilder sind oder sein könnten. In fachinternen Debatten wird viel vom Moment des Ästhetischen und der Kunst geschrieben, überraschend wenig von den Bildern, welche die Lebenswirklichkeit der Schüler und Eltern ausmachen.

      Das Umfeld für die Dienstleistung, welche die Kunsterziehung anbietet bzw. anbieten könnte, ist vielleicht noch nie so günstig gewesen, wie momentan. Ich frage mich, warum diese Dienstleistung nicht in größerem Umfang nachgefragt wird. Entweder handelt es sich nicht um das richtige Produkt oder um falsches Marketing.

DAS PRODUKT

     Eine Dienstleistung steht und fällt mit den Fähigkeiten und Kenntnissen der Dienstleister. Sie müssen sich dauernd an veränderte Bedingungen anpassen. Das Besondere an der Dienstleistung Bildung besteht in den Fähigkeiten, die bei der Zielgruppe - den Schülern - erzeugt werden. Das bedeutet: Lehrer müssen logischerweise über die Kenntnisse und Fertigkeiten verfügen, welche die Schüler brauchen. Die Produktentwicklung muß sich an den Bedürfnissen der Schüler orientieren:

    Bilder verstehen.  Der Anteil der Bilder an der Wirklichkeitserzeugung ist gewaltig. Die Rolle der Bilder beim Zustandekommen unseres Wissens wird immer wichtiger. Vieles wissen wir nur über die Vermittlung durch Bilder. Bildtheorie ist deshalb ein wichtiger Teil der Erkenntnistheorie heute und in Zukunft. Es ist notwendig, sich klar zu machen, wie Bilder funktionieren, welchen Gesetzmäßigkeiten sie folgen, um zu erkennen, warum die Welt so erscheint, wie sie erscheint. Dazu ist es wichtig, daß die Bilder überhaupt als Problem erkannt werden. Bilder, fotografische zumal, lassen sich scheinbar leicht rezipieren. Die Distanz zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist geringer als beispielsweise bei der Sprache bzw. der Schrift. Daß ein Problem besteht, wird deshalb im allgemeinen nicht so deutlich gesehen (2).  Kunsterzieher müssen sich Kompetenzen aneignen, die dazu beitragen, die Bilder zu verstehen und zu durchschauen. Diesbezüglich bestehen erhebliche Schwächen in der Ausbildung, und es besteht großer Forschungsbedarf. Aber es gibt durchaus Forschungsansätze und -ergebnisse, die zu nutzen machen sind: Zeichentheorie, Kognitionstheorie, Kunstgeschichte, Bildsemiotik, Medientheorie, Wahrnehmungspsychologie &c. 
Kunsterzieher dürfen sich nicht nur um die Kunst, sondern müssen sich auch um die Bilder kümmern, die eine gesellschaftlich relevante Rolle spielen (3). An diesem Punkt vor allem muss die Ausbildung der Kunsterzieher verbessert werden.

     Bilder verwenden. Die zunehmende Information, die zu verarbeiten ist, zwingt zur Visualisierung. In Zukunft wird es noch wichtiger als heute sein, Sachverhalte mit Hilfe visueller Gestaltung darstellen und vermitteln zu können. Hier liegt eine der Stärken der Kunsterziehung, sie gilt es weiter auszubauen und bewußt zu machen. 
Eigene Bilder entwickeln. Es gilt zu verstehen, welchen Anteil die Bilder an unserer Wirklichkeitskonstruktion haben und wie wir unsere eigenen Bilder erfinden und gegen die massenmedialen setzen können. Die Bilder der Massenkommunikation lassen unsere Welt immer einheitlicher aussehen, weitgehend unbemerkt gleichen sie sich weltweit einander an. Unsere Wirklichkeiten werden dadurch einander zunehmend ähnlicher. In diesem Zusammenhang erscheint es wichtig, daß wir die Fähigkeiten, eigene Bilder zu entwickeln und zu präsentieren, nicht verlernen. Damit beschäftigt sich die Kunsterziehung schon lange, moderne Kunst schon immer.

     Kunst verstehen. Unsere von Bildern und anderen Industrieprodukten geprägte bzw. gestaltete Welt vereinheitlicht sich zunehmend. Die Wirklichkeiten der Menschen globalisieren sich. Soziale Wirklichkeit ist das Ergebnis gemeinsamer Erfahrungen und die Art und Weise, wie wir diesen Bedeutung beimessen, d.h. wie wir sie interpretieren. In den Angleichungsprozessen könnte eine Ursache für ein mögliches Verschwinden von Kreativität liegen - mit der Folge einer abnehmenden Vielfalt von Wirklichkeitsmodellen. In der Kunst gelten andere Regeln, hier ist die Alternative, die abweichende Interpretation die wichtigste Norm, hier werden die individuellen Weltsichten gefordert. Kunst wird so zur (überlebens)notwendigen Interpretationsmaschine und zum Katalysator für neue Wirklichkeitsmodelle.
 

    EINE NEUE PRODUKTFILOSOFIE
     Um diese Anforderungen plausibel zu machen, brauchen wir eine neue Produktfilosofie. Als IBM nach dem zweiten Weltkrieg erkannte, daß ihr Produkt nicht in erster Linie Maschinen zum Schreiben sind, sondern Maschinen zur Verarbeitung von Information, ändert sich die Unternehmensfilosofie und die Firma entwickelt sich zu dem, was sie heute ist. Für die Kunsterziehung muß der entsprechende Satz lauten: "Der Gegenstand der Kunsterziehung ist die ästhetisch erzeugte Wirklichkeit." Diese neue Filosofie umfaßt zum einen alles, womit Kunsterziehung sich bisher beschäftigt hat, zum anderen bezieht ein, was ihre zukünftige Aufgabe sein kann und muß.
 
    EIN NEUER PRODUKTNAME
     Der Begriff Kunsterziehung ruft die Vorstellung hervor, daß es in diesem Unterrichtsfach um Kunst geht. Dies ist nur selten der Fall. Es sei denn, wir legen einen überholten Kunstbegriff zu Grunde; dann steht Kunst, verkürzt gesagt, für individuell hergestellte Bilder und Skulpturen mit einem bestimmten Qualitätsanspruch. Der aktuelle Begriff von Kunst ist jedoch in erster Linie geprägt durch einen spezifische Interpretationsregeln. Dieser Begriff ist sehr theoretisch und kompliziert. Deshalb ist er nicht nur Kindern und Jugendlichen schwer verständlich zu machen.

     Der Kunstunterricht beschäftigt sich meist nicht mit Kunst, sondern damit, die Welt und die eigenen Vorstellungen von ihr mit Hilfe von Bildern zu bearbeiten. In dem Moment, wo wir das Fach z.B. "Bild + Form" nennen, würden sich die Erwartungen der Schüler und Eltern ändern. Das Fach erhält damit ein anderes Framing und gleichzeitig neue Fragestellungen, ohne daß die alten damit verloren gehen. Das Problem Bild wird als solches benannt, dann fängt damit an zu existieren.
 

    KONKURRENZ 
     Das gesellschaftlich relevante Bild (4) wird Gegenstand der Ausbildung an allgemeinbildenden Schulen werden (müssen). Wenn wir Kunsterzieher uns nicht darum kümmern, werden es andere tun. Die Filologen beschäftigen sich zunehmend, vor allem auf der Grundlage der Semiotik, mit visuellen Medien. Dies schlägt allmählich auch in die Schule durch. Es könnte sein, daß es in einigen Jahren oder Jahrzehnten zwei Fächer gibt, in denen Bilder als Gegenstände behandelt werden. Wenn wir die Entwicklung verschlafen, landet die Kunsterziehung ganz schnell im Freizeitbereich. Es gibt viele wichtige Beschäftigungsfelder, die in der Regelschule nicht vorkommen. Das Musisch-Ästhetische (5)  kann nur zu leicht zur Privatsache erklärt werden, oder von weniger qualifizierten Fachlehrern übernommen werden. In einigen Bundesländern überlegt man schon, das Fach Musik aus den Fächerkanon der Schule zu nehmen. Wenn wir nicht aufpassen, werden andere Berufe sich als Lehrer im öffentlichen Ausbildungsbetrieb anmelden, Grafikdesigner, Absolventen von Filmhochschulen, Multimediadesigner. Durch sie könnten Kunsterzieher womöglich kostensparend ersetzt werden; und die Kunst könnte aus dem Bildungskanon und damit aus dem Blickfeld verschwinden ...
 
    MARKETING
      Ein gutes Produkt wird nicht schon deshalb nachgefragt, weil es da ist. Ebenso wichtig ist es, es auf dem Markt bekannt zu machen und die Kunden davon zu überzeugen, daß sie es brauchen. Die Zielgruppe der Dienstleistung Bildung ist nicht identisch mit dem Geldgeber. Deshalb müssen sich die Marketinganstrengungen in zwei Richtungen hin entwickeln, auf die Schüler einerseits und auf die Gesellschaft, genauer auf die Eltern und die Politiker andererseits. Die Argumente sind so zu formulieren, daß sie sich im allgemeinen politischen Diskurs behaupten ("Standort", Bildungsauftrag der Schule, Lebensbewältigung). Sie müssen an Argumente anschließen, die in der Politik verstanden und verwendet werden. Dies sollte angesichts der sog. Bilderflut und der sich daraus ergebenden Probleme eigentlich nicht schwierig sein. Es läßt sich leicht zeigen, daß die Schule ohne Thematisierung der Bilder ihrem Bildungsauftrag in einem wesentlichen Aspekt nicht nachkommt. Die Probleme werden allerdings auch deshalb nicht gesehen, weil den meisten Leuten der Bildergebrauch (6) kein Problem darstellt.
 
    KONSEQUENZEN FÜR DIE AUSBILDUNG VON BILDLEHRERN
       Ich denke, daß die Kunsterzieher grundsätzlich für die kommenden Anforderungen gewachsen sind. Allerdings muß die Ausbildung neue Schwerpunkte setzten. Die theoretische Auseinandersetzung mit der Funktion und Wirkung von Bildern in ihrem medialen und sozialen Kontext gehört dazu. Eine solche Auseinandersetzung muß der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Welt nicht zuwider laufen. In einer medial geprägten Welt steht es jedem Künstler gut an, sich mit Medien zu beschäftigen. So lasse sich für die Zukunft kompetente Dienstleister ausbilden, die den an sie gestellten Anforderungen gerecht werden.

Bemerkung: Dieser Text ist basiert auf einem Vortrag an der Akademie der Bildenden Künste, München im November 1997 im Rahmen eines Symposiums zu Stellung und Funktion von Kunsterziehung


1   Es läßt sich leicht der Fall eines Schülers im neusprachlichen Zweig eines bayerischen Gymnasium konstruieren, der sich immer, wenn er gefragt wird, für Musik entscheidet. Er hat im Laufe seiner Ausbildungszeit am Gymnasium 10 Wochenstunden Kunsterziehung, das sind 3,7% der gesamten Unterrichtszeit - nicht gerade viel. Wenn man sich die Verteilung auf die verschiedenen Altersstufen ansieht, wird es noch problematischer, von diesen 10 Stunden hat die Schülerin 7 also 70% in der Unterstufe.

2  Darin könnte der Grund zu suchen sein, warum das Bild als Gegenstand in der momentanen Bildungsdebatte nicht vorkommt.

3  Gesellschaftlich relevante Bilder stehen in einem weniger gebrochenen Verhältnis zur gesellschaftlich-sozialen Realität als Kunstwerke. Diese Bilder sagen uns mehr oder weniger verbindlich, was Sache ist, was richtig und was falsch ist. Es sind die Bilder, nach denen wir uns richten oder richten müssen.

4  Die gesellschaftliche Relevanz von Kunstwerken ist eine gebrochene: Kunstwerke werden nicht direkt auf das Wahrheitskonzept der Kultur bezogen; darin liegt ihre entscheidende Funktion und Strategie.

5  Daß diese Sichtweise des Faches vorherrscht, wird evident, wenn man an die Wahlalternative zwischen Musik und Kunsterziehung an bayerischen Gymnasien denkt.

6  Der Interpretationsaufwand für Bilder (fotografische zumal) erscheint so gering, daß er nicht auffällt. Die Ähnlichkeit von Augenbild und Foto ist so groß, daß der Betrachter im Gegensatz zur Schrift kaum etwas von Zeichendistanz bemerkt.
 
 

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