KUNSTERZIEHUNG ALS DIENSTLEISTUNG |
Schule soll auf das sogenannte Leben vorbereiten. Das schulisches Handeln und Denken sind also auf zukünftige Situationen zu richten. Die Frage muß folglich lauten, wie sieht die Wirklichkeit aus und vor allem, wie wird und wie soll eine zukünftige Wirklichkeit aussehen. Und dann: welchen Beitrag zu ihrer "Bewältigung" bzw. "Erzeugung" kann die Kunsterziehung leisten? Wie ist die Umwelt des Produktes Kunsterziehung beschaffen? Wie muß die Dienstleistung Kunsterziehung sich möglicherweise ändern, um nachgefragt zu werden? Welche spezifischen Problemlösungen hat sie anzubieten? Alle - nicht nur die Sonntagsredner - sind sich darin einig, daß wir in einer Welt der Bilder leben. Wenn nicht alles täuscht, wird sich ihr Einfluß in Zukunft eher noch verstärken. Die weiter wachsenden Informationsmengen zwingen zunehmend zu Visualisierungen. Die Schule ist allerdings nach wie vor ein Betrieb, dessen Hauptaugenmerk der sprachlichen Ausbildung gilt. Bilder sind bestenfalls Mittel des Unterrichts. Als Unterrichtsgegenstände kommen sie - wenn überhaupt - nur am Rande vor. Kunsterziehung, das einzige Fach, das sich explizit mit Herstellung und Wirkung von Bildern beschäftigt, wird nach der Pubertät, wenn die Schüler sich die Fragen nach der Wirklichkeit stellen, marginalisiert (1). Kunsterziehung bringt so die überwiegende Mehrzahl der Schüler mit Kindheit, Fingerfarben und angenehmem Zeitvertreib in Verbindung. Für sie bestehen die Probleme vor allem darin, "richtig" zeichnen zu können und möglichst keine Themen mit Hilfe des Malkastens lösen zu müssen, weil da die Farben so leicht ineinander laufen. Kunsterziehung hat ständig mit Legitimierungsproblemen zu kämpfen. In den aktuellen Bildungsdebatten taucht das Fach kaum auf, obwohl sein Gegenstand die Bilder sind oder sein könnten. In fachinternen Debatten wird viel vom Moment des Ästhetischen und der Kunst geschrieben, überraschend wenig von den Bildern, welche die Lebenswirklichkeit der Schüler und Eltern ausmachen. Das Umfeld für die Dienstleistung, welche die Kunsterziehung anbietet bzw. anbieten könnte, ist vielleicht noch nie so günstig gewesen, wie momentan. Ich frage mich, warum diese Dienstleistung nicht in größerem Umfang nachgefragt wird. Entweder handelt es sich nicht um das richtige Produkt oder um falsches Marketing. DAS PRODUKT Eine Dienstleistung steht und fällt mit den Fähigkeiten und Kenntnissen der Dienstleister. Sie müssen sich dauernd an veränderte Bedingungen anpassen. Das Besondere an der Dienstleistung Bildung besteht in den Fähigkeiten, die bei der Zielgruppe - den Schülern - erzeugt werden. Das bedeutet: Lehrer müssen logischerweise über die Kenntnisse und Fertigkeiten verfügen, welche die Schüler brauchen. Die Produktentwicklung muß sich an den Bedürfnissen der Schüler orientieren:
Bilder verstehen. Der Anteil der Bilder an der Wirklichkeitserzeugung
ist gewaltig. Die Rolle der Bilder beim Zustandekommen unseres Wissens
wird immer wichtiger. Vieles wissen wir nur über die Vermittlung durch
Bilder. Bildtheorie ist deshalb ein wichtiger Teil der Erkenntnistheorie
heute und in Zukunft. Es ist notwendig, sich klar zu machen, wie Bilder
funktionieren, welchen Gesetzmäßigkeiten sie folgen, um zu erkennen,
warum die Welt so erscheint, wie sie erscheint. Dazu ist es wichtig, daß
die Bilder überhaupt als Problem erkannt werden. Bilder, fotografische
zumal, lassen sich scheinbar leicht rezipieren. Die Distanz zwischen Zeichen
und Bezeichnetem ist geringer als beispielsweise bei der Sprache bzw. der
Schrift. Daß ein Problem besteht, wird deshalb im allgemeinen nicht
so deutlich gesehen (2). Kunsterzieher müssen
sich Kompetenzen aneignen, die dazu beitragen, die Bilder zu verstehen
und zu durchschauen. Diesbezüglich bestehen erhebliche Schwächen
in der Ausbildung, und es besteht großer Forschungsbedarf. Aber es
gibt durchaus Forschungsansätze und -ergebnisse, die zu nutzen machen
sind: Zeichentheorie, Kognitionstheorie, Kunstgeschichte, Bildsemiotik,
Medientheorie, Wahrnehmungspsychologie &c.
Bilder verwenden. Die zunehmende Information, die zu verarbeiten
ist, zwingt zur Visualisierung. In Zukunft wird es noch wichtiger als heute
sein, Sachverhalte mit Hilfe visueller Gestaltung darstellen und vermitteln
zu können. Hier liegt eine der Stärken der Kunsterziehung, sie
gilt es weiter auszubauen und bewußt zu machen.
Kunst verstehen. Unsere von Bildern und anderen Industrieprodukten
geprägte bzw. gestaltete Welt vereinheitlicht sich zunehmend. Die
Wirklichkeiten der Menschen globalisieren sich. Soziale Wirklichkeit ist
das Ergebnis gemeinsamer Erfahrungen und die Art und Weise, wie wir diesen
Bedeutung beimessen, d.h. wie wir sie interpretieren. In den Angleichungsprozessen
könnte eine Ursache für ein mögliches Verschwinden von Kreativität
liegen - mit der Folge einer abnehmenden Vielfalt von Wirklichkeitsmodellen.
In der Kunst gelten andere Regeln, hier ist die Alternative, die abweichende
Interpretation die wichtigste Norm, hier werden die individuellen Weltsichten
gefordert. Kunst wird so zur (überlebens)notwendigen Interpretationsmaschine
und zum Katalysator für neue Wirklichkeitsmodelle.
Der Kunstunterricht beschäftigt sich meist nicht mit Kunst, sondern
damit, die Welt und die eigenen Vorstellungen von ihr mit Hilfe von Bildern
zu bearbeiten. In dem Moment, wo wir das Fach z.B. "Bild + Form" nennen,
würden sich die Erwartungen der Schüler und Eltern ändern.
Das Fach erhält damit ein anderes Framing und gleichzeitig neue Fragestellungen,
ohne daß die alten damit verloren gehen. Das Problem Bild wird als
solches benannt, dann fängt damit an zu existieren.
Bemerkung: Dieser Text ist basiert auf einem Vortrag an der Akademie der Bildenden Künste, München im November 1997 im Rahmen eines Symposiums zu Stellung und Funktion von Kunsterziehung
|
1
Es läßt sich leicht der Fall eines Schülers
im neusprachlichen Zweig eines bayerischen Gymnasium konstruieren, der
sich immer, wenn er gefragt wird, für Musik entscheidet. Er hat im
Laufe seiner Ausbildungszeit am Gymnasium 10 Wochenstunden Kunsterziehung,
das sind 3,7% der gesamten Unterrichtszeit - nicht gerade viel. Wenn man
sich die Verteilung auf die verschiedenen Altersstufen ansieht, wird es
noch problematischer, von diesen 10 Stunden hat die Schülerin 7 also
70% in der Unterstufe.
2 Darin könnte der Grund zu suchen sein, warum das Bild als Gegenstand in der momentanen Bildungsdebatte nicht vorkommt. 3 Gesellschaftlich relevante Bilder stehen in einem weniger gebrochenen Verhältnis zur gesellschaftlich-sozialen Realität als Kunstwerke. Diese Bilder sagen uns mehr oder weniger verbindlich, was Sache ist, was richtig und was falsch ist. Es sind die Bilder, nach denen wir uns richten oder richten müssen. 4 Die gesellschaftliche Relevanz von Kunstwerken ist eine gebrochene: Kunstwerke werden nicht direkt auf das Wahrheitskonzept der Kultur bezogen; darin liegt ihre entscheidende Funktion und Strategie. 5 Daß diese Sichtweise des Faches vorherrscht, wird evident, wenn man an die Wahlalternative zwischen Musik und Kunsterziehung an bayerischen Gymnasien denkt. 6
Der Interpretationsaufwand für Bilder (fotografische zumal) erscheint
so gering, daß er nicht auffällt. Die Ähnlichkeit von Augenbild
und Foto ist so groß, daß der Betrachter im Gegensatz zur Schrift
kaum etwas von Zeichendistanz bemerkt.
|